»Psychisch noch mehr gestört«, ergänzte Sky.
»… ja.« Sein Vater sah ihn merkwürdig an. »Psychisch mehr gestört als die vorhergehende. Nun, dein Wortschatz hat sich ja erstaunlich vergrößert. Es wäre doch ein Jammer, diese Entwicklung zu unterbrechen, findest du nicht auch? Stattdessen müssen wir alles tun, um dich weiter zu fördern, nicht wahr?« Er fuhr Sky mit der Hand durchs Haar. »Und deshalb bleibst du vorerst in deinem Kinderzimmer, junger Mann. Es steht unter einem besonderen Bann, dort kann dir nichts passieren.«
Es war nicht so, als hätte Sky das Kinderzimmer gehasst, er hielt sich nicht einmal ungern darin auf. Aber wenn man ihn dort unter Arrest stellte, empfand er das zwangsläufig als Strafe.
»Ich möchte mit meiner Mutter sprechen.«
»Deine Mutter befindet sich außerhalb des Schiffs, Sky, du kannst also nicht zu ihr laufen, um sie umzustimmen. Außerdem weißt du genau, dass sie dir nichts anderes sagen würde als ich. Du hast nicht gehorcht, und dafür brauchst du einen Denkzettel.« Er wandte sich kopfschüttelnd an Constanza. »Und nun zu dir, junge Dame. Ich finde, du solltest für eine Weile nicht mehr mit Sky spielen. Was hältst du davon?«
»Wir spielen doch nicht«, sagte Constanza und sah ihn trotzig an. »Wir unterhalten uns und erkunden unsere Umgebung.«
»Richtig«, sagte Titus mit einem schweren Seufzer, »und dabei besucht ihr Bereiche des Schiffes, die euch ausdrücklich verboten sind. Das muss nun einmal bestraft werden.« Seine Stimme war milder geworden, wie immer, wenn er dazu ansetzte, eine wirklich wichtige Frage zu erörtern. »Dieses Schiff ist unsere Heimat — die einzige wahre Heimat, die wir haben — und wir müssen so tun, als würden wir für immer hier leben. Dazu gehört, dass wir uns sicher fühlen, wo das angebracht ist — dass wir aber auch wissen, wo wir besser nicht hingehen. Nicht, weil es dort Ungeheuer gäbe, das ist albern, aber weil dort Gefahren lauern — auch für Erwachsene. Maschinen und Energieanlagen. Roboter und Fallschächte. Glaubt mir, ich habe erlebt, was passieren kann, wenn sich Menschen an Orte wagen, wo sie nichts zu suchen haben, und das ist gewöhnlich alles andere als erfreulich.«
Sky glaubte seinem Vater aufs Wort. Als Leiter der Sicherheitswache an Bord eines Schiffs, das wenig unter politischen oder sozialen Spannungen zu leiden hatte, musste sich Titus Haussmann vor allem mit Unfällen und sehr selten auch einmal mit einem Selbstmord befassen. Titus hatte seinem Sohn nie bis ins Einzelne geschildert, wie man auf einem Schiff wie der Santiago zu Tode kommen konnte, aber Sky besaß genügend Phantasie, um sich den Rest selbst zu ergänzen.
»Es tut mir Leid«, sagte Constanza.
»Das kann ich mir denken, aber es ändert nichts daran, dass du meinen Sohn auf verbotene Wege geführt hast. Ich muss wohl ein Wörtchen mit deinen Eltern sprechen, Constanza, sie werden über dein Verhalten nicht gerade erfreut sein. Jetzt lauf nach Hause, in ein bis zwei Wochen reden wir vielleicht noch einmal darüber. Einverstanden?«
Sie nickte stumm und verließ die Kreuzung, wo Titus sie abgefangen hatte, durch einen der vielen gewundenen Korridore. An sich war es nicht weit zur Wohnung ihrer Eltern — im größten Wohnbereich der Santiago lag alles ziemlich nahe beieinander —, aber die Planer hatten es geschickt vermieden, bis auf die Kriechgänge für die Notversorgung und die Bahnlinien in die Säule allzu direkte Verbindungen zu schaffen. Die regulären Korridore waren so vielfach gewunden, dass sie das Schiff sehr viel größer erscheinen ließen, als es tatsächlich war. Auf diese Weise konnten zwei Familien fast nebeneinander wohnen und doch das Gefühl haben, in verschiedenen Vierteln zu leben.
Titus begleitete seinen Sohn in ihre eigene Wohnung zurück. Sky bedauerte, dass seine Mutter nicht im Innern des Schiffs war, denn bei ihr — obwohl Titus das bestritten hatte — fielen die Strafen im Allgemeinen etwas milder aus als bei seinem Vater. Sky hegte die leise Hoffnung, die Arbeiten am Rumpf hätten vielleicht weniger Zeit gekostet als geplant, dann wäre sie vor Schichtende zurückgekommen und würde im Kinderzimmer auf ihn warten. Aber sie war nirgendwo zu sehen.
»Hinein mit dir«, sagte Titus. »Clown wird sich um dich kümmern. Ich komme in zwei oder drei Stunden wieder, dann lass’ ich dich heraus.«
»Ich will da nicht hinein.«
»Natürlich nicht, sonst wäre es ja auch keine Strafe, nicht wahr?«
Die Tür ging auf. Titus schob seinen Sohn in den Raum, ohne selbst die Schwelle zu überschreiten.
Clown wartete bereits. »Hallo, Sky«, sagte er.
Im Kinderzimmer gab es viele Spielsachen. Mit einigen konnte man sich in begrenztem Umfang unterhalten — es gab sogar Momente, in denen so etwas wie Intelligenz aufblitzte. Sky ahnte, dass diese Spielsachen für Kinder seines Alters gedacht waren, abgestimmt auf die Weltsicht eines normalen Dreijährigen. Ihm waren die meisten schon bald nach seinem zweiten Geburtstag zu einfach, zu dumm erschienen. Aber Clown war anders; er war eigentlich kein Spielzeug, aber auch nicht wirklich eine Person. Clown war immer da gewesen, so lange Sky denken konnte. Er verließ das Kinderzimmer nie, war aber auch nicht immer anwesend. Clown konnte nichts anfassen, und Sky konnte ihn nicht berühren. Wenn Clown sprach, kam seine Stimme nicht genau von der Stelle, wo er stand — oder zu stehen schien.
Das sollte nicht heißen, dass Clown nur eine Ausgeburt von Skys Phantasie gewesen wäre, ein Scheinwesen ohne jeden Einfluss. Clown entging nichts, was im Kinderzimmer passierte, und wenn Sky etwas angestellt hatte und zurechtgewiesen werden musste, ließ Clown es sich nicht nehmen, Skys Eltern davon in Kenntnis zu setzen. Von ihm hatten die Eltern zum Beispiel erfahren, dass Sky das Schaukelpferd kaputt gemacht hatte und nicht — wie er ihnen hatte einreden wollen — eins von den anderen intelligenten Spielsachen. Sky war Clown deshalb sehr böse gewesen, aber nicht für lange, denn selbst er begriff, dass Clown sein einziger Freund war, abgesehen von Constanza, und dass Clown in manchen Dingen sogar noch klüger war als sie.
»Hallo«, sagte Sky mit Trauermiene.
»Du hast also Stubenarrest, weil du bei den Delphinen warst.« Clown stand allein in dem schlichten weißen Raum, alle anderen Spielsachen waren weggeräumt und nicht zu sehen. »Das war nicht richtig, Sky, das siehst du doch ein? Delphine hätte auch ich dir zeigen können.«
»Aber nicht die gleichen. Keine echten. Und die anderen hast du mir schon gezeigt.«
»Nicht so. Pass auf!«
Und plötzlich waren sie unter blauem Himmel in einem Boot mitten auf dem Meer. Ringsum sprangen Delphine aus den Wellen, glänzend wie nasse graue Kieselsteine im Sonnenlicht. Die Illusion war perfekt — bis auf die schmalen schwarzen Fenster an der einen Seite des Kinderzimmers.
In einem Bilderbuch hatte Sky einmal einen anderen Clown gefunden. Er trug einen bauschigen, gestreiften Anzug mit großen weißen Knöpfen, wirres rotes Haar umrahmte ein komisches, ewig lächelndes Gesicht, und auf dem Kopf trug er einen gestreiften Schlapphut. Als Sky das Bild berührte, bewegte sich der Clown, machte die selben Späße und schnitt ähnlich komische Grimassen wie sein eigener. Sky erinnerte sich noch dunkel, dass er früher einmal gelacht und geklatscht hatte, wenn Clown seine Späße machte, so als wären die Kapriolen eines Narren das Beste, was das Universum zu bieten hatte.
Inzwischen fand er sogar Clown allmählich langweilig. Sky ließ es sich nicht anmerken, aber ihr Verhältnis hatte eine tiefgreifende Wandlung erfahren, die sich nie wieder ganz rückgängig machen ließ. Clown war zu einem Objekt geworden, das man verstehen, analysieren und in Parameter fassen konnte. Sky begriff plötzlich, dass Clown mit dem Luftblasenbild vergleichbar war, das der Delphin ins Wasser gezeichnet hatte: er war eine Projektion, nur nicht aus Schall, sondern aus Licht geformt. Auch das Boot war nicht wirklich. Der Boden unter seinen Füßen fühlte sich noch genau so hart und flach an wie vorhin, als ihn sein Vater ins Zimmer geschoben hatte. Sky verstand nicht genau, wie die Illusion zustande kam, aber sie war vollkommen realistisch. Nirgendwo waren die Wände des Kinderzimmers zu sehen.
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