Mehr als die Hälfte der Station wurde von einem hohlen Endloszylinder aus ungeheuer stabilem Gitterwerk eingenommen. Diese Konstruktion war vom Durchmesser gerade groß genug, um den FSOJ-Patienten, die sich in ihr befanden, einen ständigen ungehinderten Durchgang in einer Richtung zu ermöglichen, und verlief serpentinenartig, damit die Beschützer die gesamte verfügbare Bodenfläche der Station, die nicht für den Eingang für das Pflegepersonal oder für Geräte zur Aufrechterhaltung der Umweltbedingungen benötigt wurde, zur Bewegung nutzen konnten. Der Zylinderboden bildete von der Form her die unebene Oberfläche und die natürlichen Hindernisse nach wie zum Beispiel die beweglichen und gefräßigen Wanderwurzeln, die auf dem Heimatplaneten des Beschützers vorzufinden waren, und durch die Öffnungen zwischen den Gitterstäben hatten die Patienten ständig Sicht auf die rings um die Außenfläche des Zylinders aufgestellten Bildschirme. Über diese Schirme liefen bewegte dreidimensionale Bilder heimischer tierischer und pflanzlicher Lebensformen, denen die Patienten auf ihrem Planeten unter normalen Umständen begegnet wären.
Dem Pflegepersonal ermöglichte die offene Zylinderkonstruktion zudem, die Patienten in den Genuß der positiveren Seiten des Lebenserhaltungssystems zu bringen. Zwischen den Bildschirmen waren nämlich die Mechanismen aufgestellt, deren einziger Zweck darin bestand, die sich schnell durch den Zylinder bewegenden Körper der Patienten so rasch und so heftig wie nötig zu schlagen, zu rupfen, zu zwicken oder zu stoßen.
Wie Lioren feststellen konnte, hatte man offenbar alles Erdenkliche getan, um es den Beschützern so richtig gemütlich zu machen.
„Werden die Beschützer uns hören können?“ schrie er über den Lärm hinweg in Richtung des Empathen. „Oder wir sie?“
„Nein, mein Freund“, antwortete der Prilicla. „Die Schreie und die grunzenden Laute, die sie ausstoßen, sind keine sprachlichen Äußerungen, sondern lediglich ein Mittel, um natürliche Feinde einzuschüchtern. Bis zu der kürzlich erfolgreichen Geburt sind die intelligenten Ungeborenen im Körper des nicht vernunftbegabten Beschützers geblieben und haben nur die inneren organischen Geräusche des Elternteils gehört. Sprechen konnten sie nicht, und es ist auch unnötig gewesen. Die einzige Form der Verständigung, die uns offensteht, ist die Telepathie.“
„Ich bin aber kein Telepath“, wandte Lioren ein.
„Das sind Conway, Thornnastor und die anderen, zu denen der damalige Ungeborene Kontakt aufgenommen hatte, auch nicht“, stellte Prilicla klar. „Die wenigen bekannten Spezies, die über telepathische Fähigkeiten verfügen, haben organische Sender und Empfänger entwickelt, die sich mit denen ihrer Artgenossen automatisch in Übereinstimmung befinden. Aus diesem Grund ist der telepathische Kontakt zwischen Mitgliedern verschiedener telepathischer Spezies nicht immer möglich. Kommt zwischen einem dieser Wesen und einem Nichttelepathen eine geistige Verbindung zustande, bedeutet das normalerweise, daß der Nichttelepath eher über schlummernde oder verkümmerte als über gar keine telepathischen Kräfte verfügt. Wird ein solcher Kontakt hergestellt, kann das für den Nichttelepathen zwar ein äußerst unangenehmes Erlebnis sein, aber an dem betroffenen Gehirn treten weder physische Veränderungen noch bleibende psychologische Schäden auf.
Gehen Sie ruhig näher an den Laufkäfig heran, mein Freund“, forderte ihn Prilicla auf. „Können Sie fühlen, wie der Beschützer mit Ihrem Geist Verbindung aufnimmt?“
„Nein.“
„Ich spüre Ihre Enttäuschung, Lioren“, sagte der Empath. Sein Körper zitterte leicht, und er führ fort: „Aber ich nehme auch die emotionale Ausstrahlung des jungen Beschützers wahr, die ganz typisch für heftige Neugier und angestrengte Konzentration ist. Er bemüht sich ernsthaft, mit Ihnen in Verbindung zu treten.“
„Tut mir leid, ich spüre noch immer nichts“, sagte Lioren.
Kurz sprach Prilicla in seinen Kommunikator, dann sagte er: „Ich habe die Heftigkeit des Angriffsmechanismus steigern lassen. Dadurch wird der Patient nicht etwa verletzt. Vielmehr haben wir herausgefunden, daß die Denkvorgänge durch die Auswirkungen erhöhter Aktivität und drohender Gefahr auf das innere Sekretionssystem unterstützt werden. Versuchen Sie, Ihr Gehirn aufnahmefähig zu machen.“
„Immer noch nichts“, sagte Lioren, wobei er sich mit einer Hand an die Seite des Kopfs faßte. „Außer einem leichten Unbehagen im Schädel, das langsam sehr.“ Der Rest war ein unübersetzbarer Laut, der es von der Lautstärke her mit dem Geschrei aufnehmen konnte, das aus dem Lebenserhaltungssystem des Beschützers drang.
Die Empfindung, die Lioren hatte, war wie ein heftiger Juckreiz tief im Gehirn, zu dem sich eine Art mißtönendes, unhörbares Geräusch gesellte, das immer lauter wurde.
So wie jetzt muß es sein, wenn eine schlummernde Fähigkeit wachgerufen und gezwungen wird, sich zu entfalten, dachte Lioren hilflos. Wie bei einem lange nicht benutzten Muskel kam es zu Schmerzen, Steifheit und einer Art Protest gegen die Veränderung der alten bequemen Ordnung der Dinge.
Plötzlich war das Unbehagen verflogen, und das ungehörte Getöse löste sich auf und wurde zu einem tiefen, ruhigen Meer geistigen Schweigens, auf das der äußere Lärm auf der Station keinen Einfluß ausübte. Dann drangen aus der Stille unausgesprochene Worte eines Wesens, das zwar keinen Namen hatte, dessen Verstand und ungewöhnliche Persönlichkeit jedoch so einzigartig waren, daß man das dazugehörige Individuum niemals mehr mit jemand anders hätte verwechseln können.
„Sie sind äußerst beunruhigt, mein Freund“, stellte Prilicla fest. „Hat der Beschützer Kontakt zu Ihrem Verstand aufgenommen?“
Der hat meinen Verstand eher überwältigt, antwortete Lioren in Gedanken. „Ja, er hat eine Verbindung hergestellt und schnell wieder abgebrochen. Ich habe ihm zu helfen versucht, indem ich ihm vorgeschlagen habe, daß wir. Jedenfalls hat er mich um einen weiteren Besuch zu einem späteren Zeitpunkt gebeten. Können wir jetzt gehen?“
Wortlos flog ihm Prilicla auf den Korridor voran, doch Lioren brauchte keine empathischen Fähigkeiten, um die heftige Neugier des Cinrusskers zu bemerken.
„Mir ist bisher nicht klar gewesen, daß man in solch kurzer Zeit derart viel Wissen austauschen kann“, sagte Lioren. „Worte teilen einen Sinn wie ein Rinnsal mit, Gedanken dagegen wie eine riesige Flutwelle, und letztere machen einem sofort und in sämtlichen Einzelheiten die vorhandenen Probleme nachvollziehbar. Ich brauche Zeit, um allein über alles nachzudenken, was mir der Beschützer mitgeteilt hat, damit ich ihm keine wirren und halbfertigen Antworten gebe. Einen Telepathen zu belügen ist unmöglich.“
„Oder einen Empathen“, fügte Prilicla hinzu. „Möchten Sie den Besuch bei der Gogleskanerin vielleicht verschieben?“
„Nein. Allein und ungestört nachdenken kann ich auch heute abend noch. Wird Khone mit mir in telepathischen Kontakt treten?“
Aus irgendeinem Grund wurde Priliclas Flug einen Augenblick lang unruhig, dann gewann er die Fassung zurück. „Das will ich nicht hoffen.“
Wie ihm der Empath erklärte, benutzten erwachsene Gogleskaner eine Form der Telepathie, für die enger Körperkontakt erforderlich war, taten jedoch alles mögliche, um eine solche Berührung zu vermeiden, es sei denn, ihr Leben war bedroht. Das lag nicht an einer simplen Xenophobie, sondern an der pathologischen Angst, sich irgendeinem großen Lebewesen zu nähern — einschließlich den Angehörigen der eigenen Spezies, die nicht zur Familie gehörten. Die Gogleskaner verfügten über eine fortgeschrittene gesprochene und geschriebene Sprache, die ihnen die für die Entwicklung der Zivilisation notwendige Zusammenarbeit als Individuen oder in der Gruppe ermöglichte. Doch sie sprachen nur selten miteinander und wenn, dann aus größtmöglicher Entfernung und in ganz unpersönlichen Worten. Daß ihr technologischer Stand auf niedrigem Niveau geblieben war, überraschte nicht.
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