Obwohl Hellishomars Muskeln immer noch angespannt waren, geriet sein Körper unter und rings um Lioren in Bewegung.
„Ihre Verbindung zu den Fremdweltlern würde nicht nur aus bloßen Wortwechseln oder den mündlichen Fragen, Antworten und Beschreibungen bestehen, die wir beide uns gegenseitig gestellt beziehungsweise gegeben haben“, fuhr Lioren schnell fort. „Wenn Sie wieder gesund sind, wird man Ihnen Großbildgeräte zur Verfügung stellen. Die Bilder werden dreidimensional und durchgehend farbig sein. Sie werden Ihnen nicht nur den physikalischen Aufbau der Galaxis zeigen, in der wir leben, und den winzigen Bruchteil von ihr, der von den Spezies der Föderation bewohnt wird, sondern Ihnen auch so detailliert, wie Sie wünschen, die Wissenschaften, die Kulturen und die Philosophien der vielen und völlig verschiedenen intelligenten Lebensformen vor Augen führen, die Mitglieder der galaktischen Föderation sind. Man könnte Vorkehrungen treffen, die es Ihnen ermöglichen, diese Lebensformen zu befragen und in optisch und akustisch realistischer Darstellung unter vielen dieser Spezies zu leben. Ihr Leben wäre zwar lang, Hellishomar, aber auch reich an Eindrücken und interessant, wodurch das Fehlen des geistigen Kontakts zu den Eltern nicht so.“
„Nein!“
Wieder pfiff die rasiermesserscharfe Knochenplatte an der Spitze einer der zum Operieren verwandten Tentakel an Liorens Kopf vorbei und krachte gegen die Wandverkleidung. Durch die Überraschung und Furcht war Lioren sowohl körperlich als auch geistig wie gelähmt, allerdings nur für einen Sekundenbruchteil. Noch bevor der metallische Nachhall verklungen war, sprach er bereits in eindringlichem Ton mit dem hudlarischen Pfleger im Stationszimmer und wies ihn an, ihn nicht aus der Station herauszuziehen. Hätte ihn Hellishomar mit der scharfen Knochenplatte wirklich treffen wollen, wäre er jetzt ein blutiger, zerstückelter Leichnam gewesen. Mühsam zwang sich Lioren, ruhig zu sprechen.
„Bin ich Ihnen zu nahe getreten?“ erkundigte er sich vorsichtig. „Ich verstehe das nicht. Wenn niemand sonst mit Ihnen reden will, warum lehnen Sie dann den Kontakt mit der Födera.“
„Hören Sie sofort auf, davon zu sprechen!“ schnitt ihm Hellishomar mit der lauten und monotonen Stimme von jemandem das Wort ab, der sich selbst nicht sprechen hören konnte. „Ich bin es nicht wert, und Sie verleiten mich zu einer noch größeren Sünde.“
Über diese plötzliche Veränderung im Verhalten des Groalterris war Lioren zwar zutiefst verwundert, doch entschloß er sich, über die verbalen Äußerungen und Umstände, die letztendlich zu dieser Reaktion geführt hatten, erst ein andermal ernsthafter nachzudenken. Er hoffte, das Sprechverbot bezog sich nur auf dieses eine, offenbar allzu heikle Thema, worum es sich dabei auch drehen mochte. Doch jetzt mußte er sich entschuldigen, ohne zu wissen wofür.
„Ich habe Sie gekränkt, Hellishomar, das ist nicht meine Absicht gewesen, und es tut mir aufrichtig leid. Mit welcher Äußerung habe ich Sie verletzt? Wir können über ein Thema Ihrer Wahl sprechen. Zum Beispiel über die Arbeit des Orbit Hospitals oder über die ständige Suche des Monitorkorps nach bewohnten Planeten in den unerforschten Regionen unserer Galaxis oder über wissenschaftliche Disziplinen, die in der Föderation ausgeübt werden und die man auf einem von Wasser bedeckten Planeten wie Groalter nicht kennt.“
Lioren brach mitten im Satz ab, da ihm Körper und Zunge gleichermaßen vor Angst erstarrten. Die rasiermesserscharfe Schneide einer Knochenplatte war auf ihn zugebraust und hatte erst Millimeter vor seinem Oberkörper und seinem Gesicht haltgemacht. Ein Stückchen höher, und sie hätte ihm zwei seiner Augenstiele abrasiert. Plötzlich drückte ihm die Knochenplatte mit der flachen Seite heftig gegen Kinn, Brust und Bauch und schob ihn beiseite. Hellishomars Tentakel entrollte sich weiter, bis er ganz ausgestreckt war, und die Knochenplatte wurde erst zurückgezogen, als sie Lioren in den Eingang zum Stationszimmer gedrängt hatte.
„Offiziell habe ich nichts gehört“, sagte der diensthabende hudlarische Pfleger, nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß Lioren unverletzt war, „aber inoffiziell würde ich sagen, der Patient möchte sich nicht mit Ihnen unterhalten.“
„Der Patient braucht Hilfe.“, begann Lioren.
Dann verstummte er, weil seine Gedanken den Worten weit vorauseilten. Aus dem letzten Gespräch mit Hellishomar entwickelte sich zusammen mit den Kenntnissen über die groalterrische Zivilisation, zu denen er bereits durch Erkundigungen oder Schlußfolgerungen gelangt war, vor seinem geistigen Auge ein Bild, das mit jeder Sekunde klarer wurde. Auf einmal wußte er, was mit und für Hellishomar getan werden mußte und auch mit denjenigen, die diese Aufgabe vollbringen konnten, obwohl ihm schwere moralische und ethische Bedenken kamen, die ihn sehr bedrückten. Dennoch war er sich sicher — oder zumindest so sicher, wie er es vor solch einem Vorhaben sein konnte — , daß er die Sache richtig anpacken würde. Aber das hatte er auch schon bei einer früheren Gelegenheit geglaubt, bei der er ebenfalls recht gehabt hatte und in seiner Selbstsicherheit stolz und ungeduldig gewesen war, was fast zum Tod der gesamten Bevölkerung eines Planeten geführt hatte. Die Verantwortung für die Vernichtung einer weiteren Planetenzivilisation wollte er nicht übernehmen, jedenfalls nicht allein, „.und ich ebenfalls“, beendete er den Satz.
Er traf Chefarzt Prilicla in der Kantine an, der mit seinen zwei langsam schlagenden schimmernden Flügelpaaren ruhig über der Tischplatte schwebte, während er eine gelbliche, fadenartige Substanz zu sich nahm, die auf dem Speisekartendisplay als terrestrische Spaghetti ausgewiesen wurde. Die Art und Weise, auf die der kleine Empath die Fäden vom Teller zog und seine zierlichen vorderen Greiforgane einsetzte, um sie zu einem feinen fortlaufenden Strang zusammenzuflechten, der langsam in seiner Eßöffnung verschwand, bot einen der faszinierendsten Anblicke, die Lioren jemals gesehen hatte.
Er wollte sich gerade dafür entschuldigen, Prilicla beim Essen zu stören, als er feststellte, daß aus einer anderen Öffnung des Empathen die melodischen, rollenden Schnalzlaute der cinrusskischen Sprache kamen.
„Freund Lioren“, begrüßte ihn Prilicla. „Wie ich spüren kann, haben Sie keinen Hunger und sind nicht einmal von meiner ungewöhnlichen Methode, im Fliegen zu essen, abgestoßen. Das bei Ihnen vorherrschende Gefühl, das wahrscheinlich auch die Ursache ist, weshalb Sie an mich herantreten, ist Neugier. Wie kann ich diese stillen?“
Bei cinrusskischen GLNOs handelte es sich um für Emotionen empfängliche Empathen, die gezwungen waren, mit allem, was in ihrer Macht stand, sicherzustellen, die emotionale Ausstrahlung der Wesen in ihrer näheren Umgebung so angenehm wie möglich zu gestalten, da sie ansonsten unter denselben unerfreulichen Gefühlen zu leiden gehabt hätten, die durch beispielsweise unfreundliches Verhalten bei den anderen Wesen verursacht worden wären. Folglich waren die Cinrussker in Worten und Taten stets freundlich und hilfsbereit. Priliclas Hinweis, daß es unnötig sei, Zeit mit Höflichkeitsfloskeln zu vergeuden, erleichterte Lioren trotzdem, und er war dem Cinrussker dafür dankbar.
„Ich bin auf Ihre empathischen Fähigkeiten schon sehr gespannt und insbesondere auf deren Ähnlichkeiten mit uneingeschränkter Telepathie“,
sagte er. „Dabei gilt mein spezielles Interesse den organischen Strukturen, den Nervenverbindungen, der Blutversorgung und den Funktionsmechanismen eines organischen Senders und Empfängers sowie den medizinischen Symptomen und den subjektiven Eindrücken des Telepathen, wenn diese Fähigkeiten versagen. Falls es gestattet ist, würde ich gern alle Telepathen befragen, die es beim Hospitalpersonal oder unter den Patienten gibt, oder auch Lebewesen wie Sie, die nicht ausschließlich auf die akustische Verständigung angewiesen sind. Bei dieser Angelegenheit handelt es sich eher um eine Art Privatvorhaben, und es fällt mir sehr schwer, mir Informationen zu diesem Thema zu beschaffen.“
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