Er überraschte sich dabei, wie er in das Lied einstimmen wollte. Das ist keine gute Idee, dachte er und steuerte das Flugrad zur Platzmitte.
Auf dem Podest hatte einst eine Statue gestanden. Louis erblickte humanoide Fußabdrücke, jeder gut über einen Meter lang, wo die Statue gestanden haben mußte. Jetzt befand sich auf dem Podest eine Art dreieckiger Altar. Ein Mann stand mit dem Rücken zum Altar und wedelte mit den Armen, während die Menge sang.
Eine graue Robe, darüber etwas rosafarben Glänzendes — Louis vermutete, daß der Mann einen Kopfschmuck trug. Wahrscheinlich aus rosa Seide.
Er beschloß, auf dem Podest selbst zu landen. Das Flugrad hatte kaum aufgesetzt, als der Chorleiter sich zu Louis umwandte. Vor Schreck hätte Louis fast seine Maschine ruiniert.
Es war rosige Kopfhaut, die Louis gesehen hatte. Als einziges in der Menge goldener Köpfe und blondbehaarter Gesichter, aus denen nur die Augen hervorstachen, war das Gesicht dieses Mannes so nackt wie Louis Wus eigenes.
Mit ausgestrecktem Arm und nach unten gekehrten Handflächen hielt der Mann die letzte Note des Gesangs… hielt sie sekundenlang… und schnitt sie ab. Einen Sekundenbruchteil später erklangen aus den Ecken des Platzes die verhallenden Echos der Nachzügler. Der… Priester?… betrachtete Louis in der plötzlichen Stille.
Er war genauso groß wie Louis Wu, ungewöhnlich für einen Eingeborenen. Seine Gesichts- und Kopfhaut war so bleich, daß sie transparent wirkte. Wie ein Albino von We Made It. Er mußte sich viele Stunden zuvor mit einem nicht ganz scharfen Messer rasiert haben, und nun kamen die Stoppeln überall wieder zum Vorschein: überall ein grauer Schimmer, bis auf zwei kreisrunde Aussparungen um die Augen.
Er sprach mit Vorwurf in der Stimme, wenigstens klang es so. Die Translatorscheibe übersetzte augenblicklich: »Also seid ihr am Ende doch gekommen.«
»Wir wußten nicht, daß man uns erwartet«, erwiderte Louis wahrheitsgemäß. Er besaß nicht genug Selbstvertrauen, um auf sich allein gestellt einen Gott zu spielen. Im Verlauf seines langen Lebens hatte er gelernt, daß eine konsistente Reihe von Lügen zu einer höllisch komplizierten Angelegenheit werden konnte.
»Dir wächst Haar auf dem Kopf«, stellte der Priester fest. »Man könnte annehmen, dein Blut wäre nicht ganz rein, Baumeister.«
Das war es also! Die Rasse der Ringwelterbauer schien vollkommen kahl gewesen zu sein. Dieser Priester hier mußte sie imitieren, indem er seine zarte Haut mit einer stumpfen Klinge mißhandelte. Oder… hatten die Baumeister vielleicht Enthaarungscreme oder etwas ähnlich einfach Anzuwendendes benutzt, weil Kahlköpfigkeit gerade Mode gewesen war? Der Priester sah dem Drahtporträt in der Banketthalle des Schlosses jedenfalls verblüffend ähnlich.
»Mein Blut geht dich nichts an«, erwiderte Louis und drängte das Problem damit beiseite. »Wir sind auf der Reise zum Rand der Welt. Was weißt du über unsere Route?«
Der Priester war ganz deutlich verwirrt. »Du fragst mich nach Informationen? Du, ein Baumeister?«
»Ich bin kein Baumeister.« Louis hielt die Hand über der Konsole, um jederzeit die Schallfalte aktivieren zu können.
Doch der Priester sah nur noch verwirrter aus. »Und warum bist du dann halb haarlos? Und wie fliegst du durch die Luft? Hast du dem Himmel Geheimnisse entwendet? Was willst du hier? Bist du gekommen, um mir meine Gemeinde wegzunehmen?«
Die letzte Frage schien die wichtigste zu sein. »Wir sind auf der Reise zum Rand der Welt. Wir brauchen nichts weiter als Informationen.«
»Sicher findest du die Antworten im Himmel.«
»Werde nicht frech, Bursche!« wies Louis ihn zurecht.
»Aber du bist direkt aus dem Himmel gekommen! Ich habe dich gesehen!«
»Oh, du meinst das Schloß! Wir haben das Schloß durchsucht. Es hat uns nicht viel verraten. Zum Beispiel: Waren die Erbauer wirklich haarlos?«
»Manchmal habe ich überlegt, daß sie sich vielleicht nur rasierten, wie ich es auch tue. Doch dein Kinn scheint von Natur aus haarlos zu sein.«
»Ich depiliere mich regelmäßig.« Louis blickte sich um. Er sah ein Meer ehrfürchtiger goldener Gesichter. »Was glauben sie denn? Sie scheinen deine Zweifel nicht zu teilen.«
»Sie sehen, wie wir als Gleiche miteinander reden, in der Sprache der Ringwelterbauer. Ich würde gerne dabei bleiben, wenn es dir nichts ausmacht.« Die Haltung des Priesters war jetzt eher konspirativ als feindselig.
»Würde das dein Ansehen bei ihnen heben? Vermutlich würde es das«, sagte Louis. Der Priester hatte tatsächlich gefürchtet, seine Anhängerschar zu verlieren — wie das jeder Priester tat, wenn sein Gott plötzlich zum Leben erwachte und selbst zu übernehmen versuchte. »Können sie uns verstehen?«
»Vielleicht jedes zehnte Wort.«
An dieser Stelle bedauerte Louis die Effizienz, mit der sein Translator arbeitete. Er konnte nicht feststellen, ob der Priester in der Sprache von Zignamucklickklick redete. Mit diesem Wissen und der Erkenntnis, wie weit die beiden Dialekte sich seit dem Zusammenbruch der Kommunikation voneinander entfernt hatten, wäre er imstande gewesen, den Niedergang der Zivilisation zu datieren.
»Was war dieses Schloß, das ihr Himmel nennt?« fragte er. »Weißt du etwas darüber?«
»Die Legenden sprechen von Zrillir und davon, wie er alles Land unter dem Himmel regierte«, erwiderte der Priester. »Auf diesem Podest hier stand die Statue von Zrillir, und sie war lebensgroß. Die Länder versorgten den Himmel mit Delikatessen, die ich dir aufzählen könnte, weil wir ihre Namen auswendig lernen, doch sie wachsen heutzutage nicht mehr. Soll ich…?«
»Nein, danke. Was ist geschehen?«
Die Stimme des Mannes ging unmerklich in einen Singsang über. Er schien die jetzt folgende Geschichte schon oft gehört und häufig selbst erzählt haben…
»Der Himmel wurde erschaffen, als die Baumeister die Welt und den Bogen errichteten. Wer den Himmel regierte, herrschte auch über das Land von einem Rand zum andern. Und so regierte Zrillir viele Leben lang und warf Sonnenfeuer vom Himmel, wann immer etwas sein Mißfallen erweckte. Eines Tages entstand der Verdacht, daß Zrillir kein Sonnenfeuer mehr schleudern konnte.
Das Volk gehorchte ihm nicht länger. Es schickte kein Essen mehr. Es riß die Statue um. Als Zrillirs Engel Steine vom Himmel schleuderten, lachten die Menschen nur und wichen ihnen aus.
Dann kam der Tag, an dem das Volk den Himmel über die fahrende Treppe zu stürmen versuchte. Doch Zrillir machte, daß die Treppe fiel. Anschließend verließen seine Engel in fliegenden Wagen den Himmel.
Später bedauerten die Menschen, daß sie Zrillir verloren hatten. Der Himmel war stets bedeckt, und das Getreide wuchs nur noch zögernd. Wir haben um Zrillirs Rückkehr gebetet…«
»Wie genau ist diese Überlieferung deiner Meinung nach?«
»Bis zum heutigen Morgen hätte ich nichts von alledem geglaubt. Bis du aus dem Himmel herabgeflogen kamst. Du machst mir schreckliche Angst, o Baumeister. Vielleicht will Zrillir tatsächlich zurückkehren und schickt seine Bastarde voraus, um die falschen Priester aus dem Weg zu räumen?«
»Ich könnte meinen Schädel rasieren. Würde das helfen?«
»Nein. Es spielt keine Rolle. Stell deine Fragen.«
»Was kannst du mir über den Niedergang der Ringweltzivilisation berichten?«
Der Priester blickte noch beunruhigter drein. »Wieso? Geht die Zivilisation unter?«
Louis seufzte und wandte sich zum ersten Mal um, um den Altar in Augenschein zu nehmen.
Der Altar stand im Zentrum des Podiums. Er bestand aus dunklem Holz. In die rechteckige Tischfläche war ein Kartenrelief geschnitzt, das Berge und Täler und Flüsse und einen einzelnen See zeigte und sich an zwei gegenüberliegenden Rändern nach oben wölbte. Die beiden anderen, kürzeren Ränder bildeten die Basis für einen goldenen, paraboloiden Bogen.
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