Teela und Der-zu-den-Tieren-spricht hatten ihm nicht zugehört. Sie knieten in der Fensterbeuge und sahen nach unten. Louis gesellte sich zu ihnen.
»Sie sind noch immer dran«, sagte Teela. Sie hatte recht. Louis schätzte, daß wenigstens tausend Leute zu ihm aufblickten. Sie sangen jetzt nicht mehr.
»Sie können nicht wissen, daß wir hier sind«, sagte er.
»Vielleicht beten sie das Gebäude an«, schlug Der-zu-den-Tierenspricht vor.
»Selbst wenn — sie können es nicht jeden Tag tun. Wir sind zu weit vom Stadtrand entfernt. Sie könnten die Felder nicht erreichen.«
»Vielleicht sind wir zufällig an einem besonderen Tag hier. Einem Feiertag.«
»Vielleicht ist letzte Nacht etwas passiert. Irgend etwas Besonderes, wie unsere Ankunft, falls uns jemand dabei beobachtet hat. Oder das dort.« Sie deutete in die Richtung.
»Darüber habe ich auch schon nachgedacht«, sagte Der-zu-denTieren-spricht. »Wie lange regnet er schon herab?«
»Seit ich aufgewacht bin, wenn nicht länger. Es ist wie Regen oder eine merkwürdige Art von Schnee. Draht von den Schattenblenden, Meile um Meile. Was meinen Sie, warum er ausgerechnet hier niedergeht?«
Louis stellte sich sechs Millionen Meilen vor, den Abstand zwischen den einzelnen Schattenblenden… und einen sechs Millionen Meilen langen Drahtfaden, der vom Aufprall der Liar losgerissen worden war… und zusammen mit dem Schiff der Ringweltoberfläche entgegenfiel, auf fast identischem Kurs. Es war kaum überraschend, daß sie über einen Teil dieses gewaltigen Fadens gestolpert waren.
Allerdings war Louis nicht in der Stimmung zu langatmigen Erklärungen. »Zufall«, sagte er. »Wie auch immer, er hat sich wie ein Umhang über uns gelegt, und er fällt wahrscheinlich schon die ganze Nacht durch. Und die Eingeborenen beten das Schloß sowieso an, weil es nämlich schwebt.«
»Überlegen Sie«, sagte der Kzin langsam. »Wenn heute die Ringweltkonstrukteure auftauchten und aus diesem fliegenden Schloß herabschwebten — die Eingeborenen würden es eher als angemessen denn als überraschend empfinden. Louis, sollen wir versuchen, Gott zu spielen?«
Louis wollte sich zum Antworten umdrehen, doch es ging nicht. Er hatte alle Mühe, sich nichts anmerken zu lassen. Vielleicht hätte er es sogar geschafft, doch Der-zu-den-Tieren-spricht erklärte Teela ihren Plan:
»Louis hat vorgeschlagen, daß wir vielleicht besser fahren, wenn wir gegenüber den Eingeborenen als Ringweltkonstrukteure auftreten. Sie und Louis sind die Akolythen. Nessus sollte einen gefangenen Dämon spielen; aber es geht bestimmt auch ohne ihn. Ich sollte einen Gott spielen, einen Kriegsgott oder so etwas…«
Teela fing an zu lachen, und Louis konnte sich nicht länger beherrschen.
Der Kzin, acht Fuß groß und unglaublich breit gebaut, war zu stark und zu wehrhaft, um etwas anderes als furchteinflößend zu sein, selbst mit stärksten Verbrennungen. Der rattenähnliche Schwanz war noch am wenigsten beeindruckend. Und nun besaß seine Haut überall die gleiche Farbe: rosig wie bei einem Baby, durchzogen von lavendelfarbenen Adern. Ohne das Fell, das seinen Kopf noch mächtiger erscheinen ließ, waren seine Ohren lächerlich pinkfarbene Segelohren. Das orangefarbene Fell über der Augenpartie sah aus wie eine Dominomaske, und darüber hinaus schien der Kzin ständig ein angewachsenes Sitzkissen aus flauschigem orangefarbenem Pelz mit sich herumzuschleppen.
Es war lebensgefährlich, einen Kzin auszulachen, doch das machte es nur noch komischer. Louis hielt sich den Leib und krümmte sich vor Lachen. Er bekam kaum noch Luft und ging rückwärts auf etwas zu, von dem er hoffte, daß es ein Stuhl war.
Eine unmenschlich große Pranke umschloß seine Schulter und hob ihn hoch. Louis zuckte noch immer unkontrolliert, als der Kzin ihm direkt in die Augen starrte. »Wirklich, Louis, dieses Verhalten müssen Sie mir erklären.«
Louis strengte sich an. »E-e-einen Kriegsgott oder so etwas!« stieß er hervor und prustete erneut los. Teela gab erstickte Gluckser von sich.
Der Kzin setzte Louis wieder ab und wartete geduldig, bis es vorbei war.
»Sie sind im Augenblick einfach nicht beeindruckend genug, um einen Gott zu spielen«, erklärte ihm Louis einige Minuten später. »Nicht, bevor Ihr Fell wieder nachgewachsen ist.«
»Wenn ich ein paar Menschen mit meinen Händen in der Luft zerreiße, werden sie sicher beeindruckt sein.«
»Sie würden Sie aus der Entfernung und aus sicheren Verstecken heraus respektieren. Das würde uns überhaupt nichts nutzen. Nein, wir müssen abwarten, bis die Haare nachgewachsen sind. Und selbst dann werden wir den Tasp des Puppenspielers benötigen.«
»Der Puppenspieler ist nicht da.«
»Aber…«
»Ich sagte, er ist nicht da! Wie sollen wir mit den Eingeborenen Kontakt aufnehmen?«
»Sie müssen hierbleiben. Finden Sie heraus, was der Kartenraum sonst noch alles an Überraschungen bereithält. Teela und ich…« Plötzlich fiel ihm ein, daß Teela den Kartenraum noch gar nicht gesehen hatte.
»Wie sieht er aus?«
»Du bleibst hier bei Der-zu-den-Tieren-spricht. Er soll dir alles zeigen. Ich gehe allein nach unten. Ihr beide könnt meine Bewegungen über die Kommunikatorscheiben verfolgen und mir zu Hilfe kommen, wenn es Schwierigkeiten gibt. Sprecher, geben Sie mir Ihren Flashlaser.«
Der Kzin murrte, doch er überließ Louis das Werkzeug. Ihm blieb immer noch der modifizierte Slaver-Desintegrator als Waffe.
Aus einer Höhe von tausend Fuß über ihren Köpfen hörte Louis, wie das ehrfürchtige Schweigen einem erstaunten Geraune wich. Da wußte er, daß sie ihn entdeckt hatten, ein heller Punkt, der das Schloß aus einem der Fenster verließ. Er sank ihnen entgegen.
Das Murmeln erstarb nicht, sondern wurde leiser. Louis hörte den Unterschied.
Dann fingen sie von neuem an zu singen.
»Es klingt so getragen«, hatte Teela ihm gesagt. »Sie bleiben nicht im Rhythmus.« Und: »Der Gesang ist schrecklich flach.« Louis war überrascht, als er es schließlich mit eigenen Ohren hörte. Der Gesang war viel besser, als er erwartet hatte.
Wahrscheinlich benutzten sie eine Zwölftonleiter. Die Oktaven der diatonischen Tonleiter waren ähnlich, doch es gab ein paar Unterschiede. Kein Wunder, daß Teela es als flach empfunden hatte.
Und ja, es klang getragen. Kirchenmusik, langsam und feierlich und eintönig, ohne Harmonien. Doch der Gesang besaß Erhabenheit.
Der Platz unter dem Schloß war enorm. Tausend Menschen waren eine gewaltige Menge nach den Wochen der Einsamkeit, doch der Platz hätte zehnmal so viele aufnehmen können. Lautsprecher hätten geholfen, ihren Gesang im Rhythmus zu halten, doch es gab keine. Ein einzelner Mann auf einem Podest in der Mitte des Platzes winkte mit ausgestreckten Armen. Niemand schenkte ihm Aufmerksamkeit. Sie alle blickten zu Louis Wu.
Die Musik war wunderschön.
Teela hatte kein Ohr für ihre Schönheit. Die Musik, die sie kannte, stammte von Konserven und aus 3D-Anlagen und ging stets vorher durch ein Mikrophon. Man konnte sie verstärken, korrigieren, die Stimmen vervielfachen oder verbessern und schlechte Passagen überarbeiten oder herausschneiden. Teela Brown hatte niemals in ihrem Leben ein Live-Konzert gehört.
Im Gegensatz zu Louis Wu. Er verlangsamte seinen Sinkflug, um Zeit zu finden, sich an den Rhythmus zu gewöhnen. Ihm fielen die großen öffentlichen Gesangsveranstaltungen auf den Klippen über Crashlanding City ein, wo mehr als zweimal so viele Menschen gesungen hatten wie hier. Es hatte anders geklungen, und nicht zuletzt aus einem ganz besonderen Grund: Louis Wu hatte mitgesungen. Jetzt, während er die Musik auf sich einwirken ließ, nahmen seine Ohren die leicht scharfen, flachen Noten wahr, die verschwommenen Stimmen, die Eintönigkeit, die langsame Majestät des Liedes.
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