»Und dann?«
»Noch mehr Dreck. Felssohle. Ringweltfundament«, sagte Louis. Während er dies sagte, schien sich die Landschaft ringsum zu verändern. Die Sturmwolken, Berge, die Stadt spinwärts und die Stadt, die hinter ihnen schrumpfte, der leuchtend helle Fleck weit weg am unendlichen Horizont, der vielleicht ein weiteres Meer aus Spiegelblumen war… all das zeigte sich plötzlich als die Hülse, die es eigentlich war. Der Unterschied zwischen einem echten Planeten und diesem hier war der gleiche wie der zwischen einem echten menschlichen Gesicht und einer hohlen Maske.
»Graben Sie auf einer x-beliebigen Welt«, fuhr der Puppenspieler fort. »Irgendwann stoßen Sie zwangsläufig auf irgendeine Art von Metallerz. Hier finden Sie vierzig Fuß Erdboden — und dann das Ringweltfundament. Dieses Material kann nicht verarbeitet werden. Wenn man es durchstoßen könnte, würde der Schürfer auf Vakuum treffen — ein schlimmer Lohn für seine Mühen.
Setzen Sie auf den Ring eine Zivilisation, die imstande ist, den Ring zu errichten. Notwendigerweise besitzt sie die Technologie billiger Materieumwandlung. Sobald diese Zivilisation die Technologie der Materieumwandlung verliert — gleichgültig, aus welchem Grund — was würde bleiben? Sicherlich hat sie keine Rohstoffe gelagert. Es gibt kein Erz. Das gesamte Metall des Rings wäre in Maschinen und Werkzeugen verbaut, der Rest wäre Rost. Selbst interplanetare Raumfahrt würde ihnen nicht weiterhelfen, weil es im gesamten System nichts mehr gäbe, was abgebaut werden könnte. Die Zivilisation würde niedergehen und nie wieder auferstehen.«
Leise fragte Louis: »Wann haben Sie das herausgefunden?«
»Schon vor einiger Zeit. Es schien für unser Überleben ohne Bedeutung.«
»Also haben Sie es auch nicht erwähnt, richtig?« sagte Louis. Wie viele Stunden hatte er sich mit diesem Problem beschäftigt! Und plötzlich schien alles so offensichtlich. Welch eine Falle! Welch eine schreckliche Falle für denkende Wesen!
Louis sah nach vorn (und notierte beiläufig, daß Nessus Bild von der Konsole verschwunden war). Der Sturm war inzwischen näher, und er war groß. Zweifellos würden die Schallfalten damit fertig, doch…
Es war besser, ihn zu überfliegen. Louis zog den Steuergriff nach hinten, und die Maschinen stiegen dem grauen Dach der Welt entgegen, den Wolken, die den Himmel bedeckten, seit sie das Schloß gefunden hatten.
Louis Gedanken schweiften träge ab…
Es dauerte eine Zeitlang, eine neue Sprache zu lernen. Und jedesmal eine neue Sprache zu lernen, wenn sie irgendwo landeten, wäre ein Ding der Unmöglichkeit. Die Frage wurde immer bedeutsamer. Wie lange schon waren die Bewohner der Ringwelt in die Barbarei zurückgefallen? Wie lange war es her, daß alle die gleiche Sprache gesprochen hatten? Wie weit hatten sich die regionalen Dialekte von der ursprünglichen Sprache entfernt?
Das Universum verschwamm, dann wurde es vollkommen grau. Sie waren in den Wolken. Nebelfetzen umströmten die Blase von Louis’ Schallfalte. Dann durchbrachen die Maschinen die Wolkendecke.
Vom endlosen Horizont her starrte ein riesiges blaues Auge Louis Wu über die unendliche Wolkendecke hinweg an.
Wäre Gottes Kopf so groß gewesen wie der irdische Mond, dann hätte das blaue Auge die passende Größe besessen.
Es dauerte einen Augenblick, bis Louis Wu begriff, was er dort sah. Einen weiteren Augenblick lang weigerte sich sein Verstand einfach, es zu glauben. Das Bild wollte verblassen wie ein schlecht beleuchtetes Holo.
Durch das Summen in den Ohren hörte/spürte er, wie jemand schrie.
Bin ich tot? fragte er sich.
Und: Ist das Nessus, der so schreit? Aber er hatte die Verbindung unterbrochen.
Es war Teela. Teela, die sich in ihrem ganzen Leben noch niemals vor irgend etwas gefürchtet hatte. Teela hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und versteckte sich vor dem Blick dieses riesigen blauen Auges.
Es lag Steuerbord voraus, und es bewegte sich nicht. Es schien die kleine Gruppe anzuziehen.
Bin ich tot? Ist das der Schöpfer, der gekommen ist, um über mich zu richten?
Welcher Schöpfer?
Es war an der Zeit für Louis Wu, sich zu entscheiden, an welchen Schöpfer er glaubte, wenn überhaupt.
Das Auge war Blau und Weiß, mit einer weißen Augenbraue und einer dunklen Pupille. Weiß von Wolken, Blau wegen der Entfernung. Als wäre es ein Teil des Himmels selbst.
»Louis!« kreischte Teela. »Unternimm etwas, Louis!«
Das ist nicht wahr, dachte Louis. Seine Kehle war wie zugeschnürt. Sein Verstand rannte in seinem Kopf hin und her wie ein eingesperrtes Tier. Das Universum ist riesig, aber einiges ist trotzdem unmög lich.
»Louis!«
Louis fand seine Stimme wieder. »Sprecher! He, Sprecher-zu-denTieren! Was sehen Sie?«
Der Kzin benötigte einige Zeit für seine Antwort. Seine Stimme klang merkwürdig tonlos. »Ich sehe ein riesiges menschliches Auge genau vor uns.«
»Menschlich?«
»Ja. Sehen Sie es ebenfalls?«
Das Wort, das Louis niemals in den Sinn gekommen wäre, änderte alles. Menschlich. Ein menschliches Auge. Wäre es eine übernatürliche Erscheinung gewesen, hätte der Kzin ein Kzintiauge gesehen — oder überhaupt nichts.
»Dann gibt es eine natürliche Erklärung«, sagte Louis. »Es muß eine geben.«
Teela blickte ihn hoffnungsvoll an.
Aber wieso schien es sie dann anzuziehen?
»Oh!« sagte Louis und riß das Steuer herum. Die Räder schwenkten spinwärts.
»Das ist nicht unser Kurs, Louis!« sagte Der-zu-den-Tieren-spricht augenblicklich. »Bringen Sie uns wieder auf Kurs, oder übergeben Sie mir das Steuer.«
»Sie denken doch wohl nicht daran, durch dieses Ding hindurchzusteuern, oder?«
»Es ist zu groß, um einen Umweg zu fliegen.«
»Sprecher, es ist nicht größer als der Plato-Krater. Wir können es in einer Stunde umrunden. Warum ein Risiko eingehen?«
»Wenn Sie Angst haben, dann scheren Sie aus der Formation aus, Louis. Fliegen Sie um das Auge herum und treffen Sie mich auf der anderen Seite wieder. Teela, Sie können das gleiche tun. Ich fliege hindurch.«
»Warum?« Louis’ Stimme klang in seinen eigenen Ohren erschüttert. »Glauben Sie vielleicht, daß eine… zufällige Wolkenformation eine Herausforderung an Ihre Männlichkeit darstellt?«
»Meine was? Louis, meine Fähigkeit zur Fortpflanzung steht nicht zur Diskussion. Es geht hier um meinen Mut.«
»Aber warum?« Die Räder jagten mit zwölfhundert Meilen in der Stunde über den Himmel. »Warum steht Ihr Mut zur Diskussion? Sie schulden mir eine Antwort. Sie riskieren unser aller Leben.«
»Nein. Sie können das Auge umfliegen.«
»Und wie sollen wir Sie hinterher wiederfinden?«
Der Kzin dachte nach. »Da haben Sie recht. Haben Sie von der Ketzerei des Kdapt-Predigers gehört?«
»Nein.«
»In den dunklen Tagen nach dem Vierten Waffenstillstand mit der Menschheit begründete Kdapt-Prediger eine neue Religion. Er wurde vom Patriarchen selbst im Duell Mann gegen Mann getötet, da er seinen Familiennamen trug, doch die ketzerische Religion überlebt im Geheimen bis heute. Kdapt-Prediger glaubte, daß Gott der Schöpfer die Menschen nach seinem Ebenbild geschaffen hat.«
»Die Menschen? Aber… Kdapt-Prediger war doch ein Kzin?«
»Ja. Ihr habt immer wieder gewonnen, Louis. Drei Jahrhunderte lang. Vier Kriege. Und immer habt ihr gewonnen. Die Anhänger von Kdapt-Prediger trugen Menschenmasken, wenn sie beteten. Sie hofften, den Schöpfer lange genug zu narren, um einen Krieg zu gewinnen.«
»Und als Sie dieses Auge sahen, das vom Horizont her auf uns starrt…«
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