Ist dieses neue Lebensgefühl eine Folge des Wissens, daß wir sterben müssen? überlegte Calapine.
»Ich bin nicht sicher, daß wir mitarbeiten werden«, warf Glisson ein.
Das genügte Harvey. Er sprang auf und funkelte Glisson an. »Du Roboter möchtest wohl, daß die menschliche Rasse ausstirbt? Ihr seid ebenso eine Sackgasse.«
»Leeres Geschwätz!« fauchte Glisson.
»Hört mal«, forderte Calapine sie auf und begann die Sprechkanäle zu öffnen. Satzfetzen waren in der Halle zu vernehmen:
»Wir können mit eigenen Möglichkeiten unser Enzymgleichgewicht erhalten … Löscht diese Kreaturen aus … Was plant er? … Wie lange haben wir Zeit, wenn … Zweifellos können wir …«
Calapine schaltete die Stimmen ab. »Wir müssen abstimmen lassen, denkt daran.«
»Und Ihr werdet sterben, und das bald, wenn wir nicht mittun«, drohte Glisson, »ich möchte, daß das absolut klar ist.«
»Kennst du Svengaards Plan?« fragte Calapine.
»Seine Gedanken sind durchsichtig für mich«, erklärte Glisson.
»Ich glaube nicht. Ich sah ihn, als er sich um Nourse kümmerte. Er verabreichte ihm eine Überdosis Aneurin und Inostol. Ich frage mich nun selbst, wie viele von uns bei dem Versuch, diesen Prozeß aufzuhalten, sterben müssen? Hätte ich an mir selbst eine solche Überdosis versucht? Will jemand von uns, der diese Erregung kennengelernt hat, in Langeweile zurückfallen? Das sind meine Fragen.« Sie sah Svengaard an.
»Ich kenne seinen Plan«, knurrte Glisson. »Eure Gefühle sollen aufgeschwemmt werden, jeder von Euch soll eine ganze Enzymapotheke eingepflanzt bekommen. Er will Cyborgs aus Euch machen.« Er fletschte grinsend die Zähne. »Das ist Eure einzige Hoffnung. Akzeptiert Ihr sie, dann habt Ihr am Ende gegen uns verloren.«
Calapine sah ihn erschreckt an.
Der schneidende Wahnsinn in Glissons Worten ließ Harvey aufhorchen. Vom Untergrund her wußte er, daß die Cyborgs zu berechnend, zu engstirnig waren, als daß sie menschliche Entscheidungen hätten begreifen können. Noch niemals hatte er einen so klaren Beweis dafür erhalten.
»Ist das dein Plan, Svengaard?« fragte Calapine.
»Nein!« rief Harvey und sprang auf.
»Du glaubst zu wissen, was ich, ein Cyborg, nicht weiß?« höhnte Glisson.
Svengaard hob die Brauen und sah Harvey an.
»Embryos«, sagte Harvey.
Svengaard nickte. »Ich schlage vor, ständig lebende Embryos in Euch eingepflanzt zu erhalten«, sagte er, »denn lebende Monitore werden für Eure eigenen Bedürfnisse sorgen. Ihr werdet Eure Emotionen wiederfinden, Eure Lebenslust, die Aufregung, die Ihr so preist.«
»Dann willst du uns also zu lebenden Bruttanks für Embryos machen?« staunte Calapine.
»Der Entwicklungsprozeß kann auf Jahrhunderte verzögert werden«, erklärte Svengaard. »Selbst bei Männern läßt er sich durchführen, gibt man entsprechende Hormone. Selbstverständlich Kaiserschnitt — er braucht nicht oft zu erfolgen und auch nicht schmerzhaft zu sein.«
Calapine überlegte. Weshalb stieß dieser Vorschlag sie nicht ab? Früher einmal hatte die Vorstellung, Lizbeth trage in ihrem Leib einen lebenden Embryo, sie angewidert. Jetzt fühlte sie Eifersucht auf sie.
»Calapine!« rief Glisson, »Ihr werdet doch diesen verrückten Vorschlag nicht annehmen?«
Dieser Roboter lehnt jede lebensnahe Lösung ab, dachte sie. Sie wandte sich an Boumour. »Was sagst du dazu?«
»Ja, Boumour, sprich!« forderte Glisson, »beweise, wie unlogisch dieser Vorschlag ist.«
Boumour musterte Glisson, sah Svengaard an, die Durants, dann Calapine. Sein Gesicht drückte verborgenes Wissen aus. »Ich erinnere mich, wie es war … einmal … und ich glaube, es war besser, bevor ich mich … änderte.«
»Boumour!« mahnte Glisson.
Triff seinen Stolz, dachte Svengaard.
Glisson blickte mit mechanischer Eindringlichkeit zu Calapine hinauf. »Es ist noch lange nicht sicher, daß wir Euch helfen werden.«
»Wer braucht euch schon?« fragte Svengaard. »Ihr habt kein Monopol für eure Techniken. Ihr würdet uns ein bißchen Zeit und Mühe sparen, das ist alles. Embryos finden wir selbst.«
»Aber so ist der Computer nicht programmiert!« antwortete Glisson. Dann schwieg er. Seine Augen wurden glasig.
»Doktor Svengaard«, sagte Calapine, »kannst du uns gesunde, lebensfähige Embryos besorgen — so wie das der Durants? Du hast doch die Argininintrusion gesehen. Nourse glaubt, das sei möglich.«
»Es ist möglich«, erklärte Svengaard und überlegte. »Ja, wahrscheinlich.«
Calapine sah zu den Spionen hinauf. »Wenn wir dieses Angebot annehmen, werden wir weiterleben. Fühlt ihr, daß wir jetzt leben? Vor kurzem haben wir noch nicht gelebt.«
»Wenn wir müssen, werden wir helfen«, antwortete Glisson mürrisch.
Nur Lizbeth erkannte aus ihrem Zustand der Schwangerschaft heraus den logischen Grund für den Meinungsumschwung Glissons. Fügsame Menschen konnte man unter Kontrolle halten, dachte er. Sie las es in ihm und verstand seinen Gedankengang, nun, da sie wußte, daß auch er Zorn und Stolz kannte.
Calapine setzte die Analogatoren auf Antwort; sie ließ nicht auf sich warten: »Dieser Prozeß kann nicht nur uns, sondern auch dem Volk zehn- bis zwölftausend zusätzliche Lebensjahre bringen.«
»Auch dem Volk«, flüsterte Calapine. Einen Sicherheitsdienst brauchte man nicht mehr. Auch die Kontrollkugel hatte Mängel und Grenzen, und Glisson wußte das. Svengaard mußte sich darüber klar sein, vielleicht wußten es sogar die Durants. Nun wußte sie auch, was sie zu tun hatte. Es würde leicht sein, in diesem Augenblick zu verlieren — ganz und gar.
»Wenn es getan wird«, bestimmte Calapine, »dann für jeden, der es wünscht — Volk oder Regenten.« Das ist Politik, so würde die Tuyère es machen, selbst Schruille. Besonders Schruille. Kluger Schruille. Toter Schruille. Sie hörte ihn fast kichern.
»Kann es auch für das Volk getan werden?« fragte Harvey.
»Für jeden«, bestätigte sie und lächelte Glisson an, da sie nun gewonnen hatte. »Ich denke, wir können darüber abstimmen.«
Sie sah hinauf zu den Spionen. Mancher von denen dort oben würde die Rückkehr zu alten Zeiten vorziehen, sich an die Erhaltung des Enzymgleichgewichtes klammern. Doch sie wußte es besser.
»Grün für Doktor Svengaards Vorschlag — Gold dagegen«, bestimmte sie.
Langsam wechselten die Lichter der Spione. Grün … grün … grün … nur vereinzelt ein goldener Flekken. Es war eine überwältigende Zustimmung zu Svengaards Plan, und gerade dieser Umstand machte sie mißtrauisch. Sie zog ihre Instrumente zu Rate und las die Antwort: Die Cyborgs lassen sich manövrieren mit ihrem Glauben an die Allgewalt der Logik.
Calapine nickte. Und das Leben kann nicht ganz und gar gegen die Interessen der Lebenden ausgespielt werden, überlegte sie.
»Der Vorschlag ist angenommen«, verkündete sie. Doch sie fand, daß der Ausdruck auf Glissons Gesicht ihr nicht gefiel. Wir haben etwas übersehen — aber was? fragte sie sich. Wir werden es herausfinden, haben wir uns erst einmal umgewöhnt.
Svengaard drehte sich zu Harvey Durant um; er lachte ihn breit an. Das war wie in einem Operationsraum. Man machte sich einen Plan und führte ihn dann aus. Hier wie dort konnte man mit derselben Präzision arbeiten, die eine winzige Zelle verlangte.
Harvey wog Svengaards Lachen ab; sein Gesicht konnte die Gefühle nicht verbergen, die ihn beherrschten. Alle Gesichter um ihn herum lagen offen vor ihm, dem im Untergrund geschulten Kurier. Es war wie ein Waffenstillstand zwischen zwei Mächten. Das Volk hatte die Chance für Jahrtausende — falls man Calapine glauben konnte, und sie glaubte selbst daran. Die genetische Zukunft hatte zu neuen Formen gefunden. Es war eine Form, die sich fortsetzte und fortzeugte, unendlich, ohne zeitliche Begrenzung. Heisenberg hätte diese Form gutgeheißen. Die Bewegenden wurden bewegt und durch die Bewegung umgewandelt.
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