»Wie kannst du es wagen?« tadelte sie. »Du glaubst, du kannst einem Regenten Fragen stellen, dessen Lebenserfahrung die deine zu einem Nichts werden läßt?«
Er sah ihre verschrammte Nase an, das Blut.
»Regenten«, sagte Svengaard. »Sterries, deren Konstitution die Enzymgaben für eine Lebensverlängerung ins Unendliche annimmt, bis … bis die Zerstörung von innen heraus erfolgt? Ich glaube, Ihr wollt sterben.«
Calapine richtete sich auf und funkelte ihn böse an. Doch plötzlich kam ihr das seltsame Schweigen in der Halle zu Bewußtsein. Sie sah sich um, erkannte eine intensive Wachsamkeit in jedem auf sie gerichteten Auge. Die Erkenntnis kam langsam: Sie sehen das Blut auf meinem Gesicht …
»Ihr hattet ein unendliches Leben«, fuhr Svengaard fort. »Macht Euch das weiser, intelligenter? Nein. Ihr habt nur länger gelebt, hattet mehr Zeit, Euch zu bilden. Wahrscheinlich sind die meisten von Euch weit über ihre Intelligenz hinaus gebildet, sonst hättet Ihr schon lange sehen müssen, daß dieser Augenblick unvermeidlich war, daß die Ausgewogenheit zusammenbrechen muß, daß Ihr alle sterben werdet.«
Calapine trat einen Schritt zurück. Seine Worte schnitten wie brennende Messer in ihre Nerven.
»Seht Euch doch an! Alle seid Ihr krank. Und was tun Eure unbezahlbaren Pharmazeuten? Das weiß ich, ohne daß man es mir sagen muß: immer mehr Medikamente, immer größere Dosen. Das wird immer so weitergehen, solange es Ihr erlaubt, aber es wird Euch nicht retten.«
»Bring ihn zum Schweigen!« rief jemand hinter ihr. Der Ruf pflanzte sich durch die ganze Halle fort, Füße trampelten, Fäuste trommelten. »Er soll schweigen … schweigen … schweigen …«
Calapine preßte die Hände auf ihre Ohren, doch ihre Haut fühlte das Geschrei. Und jetzt kamen die Regenten von ihren Bänken herab auf die Gefangenen zu. Sie wußte, die nächste Minute konnte die grausamsten Gewalttaten auslösen.
Sie hielt inne.
Calapine wußte nicht weshalb und ließ die Hände fallen. Schreie hagelten auf sie nieder. Die Namen halbvergessener Gottheiten wurden angerufen. Augen starrten auf etwas, das an der Stirnseite der Halle am Boden lag. Calapine wirbelte herum, sah, daß Nourse sich mit Schaum vor dem Mund dort wand. Seine Haut war von roten, gelben und purpurnen Flecken verunstaltet, seine Hände tasteten über den Boden, krallten sich in ihn.
»Tut doch etwas!« schrie Svengaard. »Er stirbt!« Noch als er schrie, wurde ihm die Fremdheit dieses Wortes bewußt. Etwas tun — seine medizinische Schulung war stärker als die Gewohnheit und kümmerte sich nicht darum, was dann mit ihm geschah.
Calapine trat ein paar Schritte zurück und hob die Hände zu einer beschwörenden Geste. Schruille sprang auf und stieg auf die Bank. Sein Mund bewegte sich lautlos.
»Calapine«, sagte Svengaard, »wenn Ihr ihm nicht helfen wollt, dann laßt mich frei, damit ich es tun kann.«
Sie lief herzu, um ihn zu befreien, dankbar dafür, daß sie diese schreckliche Verantwortlichkeit an einen anderen abgeben konnte. Die einengende Hülle fiel. Svengaard fiel beinahe, denn seine Arme und Beine waren fast taub. Er humpelte auf Nourse zu. Sein Geist arbeitete fieberhaft. Gelbe Flecke auf der Haut — höchstwahrscheinlich eine Immunreaktion auf Pantothensäure und ein Versagen der Adrenalinsteuerung.
Das rote Dreieck einer pharmazeutischen Zapfstelle leuchtete links von ihm an der Wand über den Bänken. Svengaard bückte sich und hob Nourses verkrampften Körper auf, schleppte ihn zum Zapfhahn. Der Mann wog unendlich schwer in seinen Armen; er bewegte sich nicht, nur die Brust hob sich in flachen, mühsamen Atemzügen.
Die Regenten drängten zurück, als ginge die Pest an ihnen vorbei. »Laßt mich hinaus!« kreischte eine Stimme über ihm. Die Menge drängte hinaus. Füße stampften über den Plasmeldboden. Sie drängten zu den Ausgängen, überrannten einander, trampelten über die Gefallenen. Schreie, Flüche, gellendes Kreischen.
Svengaard schmerzten die Arme, so schwer war die Last. Er taumelte und fiel fast die beiden letzten Stufen vor dem Zapfhahn hinauf. Dort ließ er Nourse zu Boden gleiten. Hinter ihm klangen Stimmen auf. Durant und Boumour riefen, man solle sie befreien.
Später, dachte Svengaard. Er legte die Hand auf die Kontrolltür zum Zapfhahn. Sie öffnete sich nicht. Natürlich — er war ja kein Regent. Er hob Nourse auf und legte dessen Hand auf den Kontrollknopf. Die Tür glitt zur Seite. Hinter ihr lag all das, was für den Notfall vorgesehen war: Pyrimidine, Aneurin …
Aneurin und Inositol, dachte er. Ich muß die Immunreaktion bekämpfen. Rechts von der Tür sah er die vertraute Schalttafel für die Dosierung der Zufuhren mit einer Höhlung, die einen Arm aufnehmen konnte und den gebrauchsfertigen Injektionsnadeln. Svengaard drückte den Hebel zum Haupthahn und öffnete ein Fach. Dort fand er die Anschlüsse für Aneurin und Inositol, sperrte die anderen Anschlüsse und legte Nourses Arm unter die Nadeln; sie suchten automatisch die Venen, stachen ins Fleisch. Das Meßgerät begann zu arbeiten, schaltete endlich ab.
Vorsichtig löste er die Nadeln aus Nourses Arm und bettete den Mann auf den Boden. Sein Gesicht war nun von leichenhafter Blässe, aber die Atmung hatte sich vertieft. Die Lider flatterten; die Haut fühlte sich kalt und feucht an.
Schockwirkung, überlegte Svengaard. Er zog seine Jacke aus, legte sie Nourse um die Schultern und begann ihn zu massieren, um den Kreislauf wieder in Gang zu bringen.
Calapine kam nun und setzte sich neben Nourse auf den Boden. Sie hatte die Hände so krampfhaft verschränkt, daß die Knöchel weiß hervortraten. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck seltsamer Klarheit, und ihre Augen starrten in weite Fernen. Sie hatte das Gefühl, von viel weiter hergekommen zu sein als vom Boden der Halle, getrieben von Erinnerungen, die sie am liebsten verleugnet hätte. Sie wußte, daß sie durch Wahnsinn zu einer eigenartig losgelösten Vernunft gelangt war.
»Wird er sterben?« fragte sie und ließ Svengaard nicht aus den Augen.
»Nicht sofort«, antwortete Svengaard, »aber dieser hysterische Ausbruch hat seinem System einen irreparablen Schaden zugefügt.« Gedämpftes Stöhnen und ruhige Befehle hörte er nun aus der Halle. Einige der Diener hatten sich zur Hilfe zusammengefunden.
»Ich habe Boumour und die Durants freigelassen und um mehr … medizinische Hilfe gebeten«, berichtete Calapine. »Es gibt eine Anzahl von … Toten … Viele sind verletzt.«
Tote? dachte sie, ein seltsames Wort für einen Regenten. Tot … tot … tot …
Nun näherte sich Boumour, der eine schlaffe Frauengestalt in den Armen hielt. Über Wange und Kinn hatte sie eine blaue Schramme.
»Ist der Zapfhahn frei?« fragte Boumour. Seine Stimme klang kalt wie die eines Cyborg, doch in seinen Augen stand nackter Schrecken.
»Du mußt die Apparatur mit der Hand bedienen«, erklärte Svengaard, »denn ich habe das automatische System abgeschaltet.«
Boumour trug die Frau heran. Wie zerbrechlich sie doch aussah. An ihrem Hals klopfte eine Ader.
»Ich muß etwas zur Muskelentspannung geben, bevor wir sie ins Hospital bringen können«, sagte Boumour. »Sie brach sich die Arme — kontramuskuläre Spannung.«
Svengaard setzte die Massage bei Nourse fort. Er warf einen Blick in die Halle, auf das Fahrzeug. Glisson saß armlos und teilnahmslos unter seiner Hülle. Lizbeth lag seitlich von ihm auf dem Boden und Harvey kniete neben ihr.
»Mrs. Durant!« rief Svengaard, als er sich seiner Pflicht erinnerte.
»Es geht ihr ganz gut«, berichtete Boumour. »Für sie war es das Beste, was man sich wünschen konnte, daß sie sich in den letzten Stunden nicht bewegen konnte.«
Das Beste, dachte Svengaard. Durant hatte recht: Diese Cyborgs waren gefühllos wie Maschinen.
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