Anne Boyer
DIE UNSTERBLICHEN
Krankheit, Körper, Kapitalismus
Aus dem amerikanischen Englisch von
Daniela Seel
Prolog
Die Tempelschläfer:innen
Geburt des Pavillons
Krankenbett
Wie das Orakel hielt
Lügen
Im Tempel der Tränen Giulietta Masinas
Vertanes Leben
Deathwatch
Epilog
Anmerkungen
Bibliografie
Selbst nicht, wenn ich zehn Zungen und zehn Münder hätte.
– Homer, Ilias
1972 dachte Susan Sontag über einen Essay nach, der »Über das Sterben von Frauen« oder »Frauentode« oder »Wie Frauen sterben« heißen sollte. In ihrem Tagebuch findet sich unter dem Stichwort Material eine Liste mit elf Toden, darunter der Tod von Virginia Woolf, der Tod von Marie Curie, der Tod von Jeanne d’Arc, der Tod von Rosa Luxemburg und der Tod von Alice James. 1Alice James starb 1892 mit 42 Jahren an Brustkrebs. In ihrem eigenen Tagebuch beschreibt sie den Tumor als »diese unheilige granitene Substanz in meiner Brust«. 2Sontag zitiert die Passage später in Krankheit als Metapher , dem Buch, das sie nach ihrer eigenen Brustkrebsbehandlung, diagnostiziert 1974 mit 41 Jahren, schrieb. 3
Krankheit als Metapher nimmt Krebs nicht persönlich. Sontag schreibt »ich« und »Krebs« nicht im selben Satz. Bei Rachel Carson wird 1960 Brustkrebs festgestellt, als sie an Silent Spring arbeitet, einem der wichtigsten Bücher zur Kulturgeschichte von Krebs. Sie ist 53 Jahre alt. Auch Carson spricht nicht öffentlich über den Krebs, an dem sie 1964 stirbt. 4Tagebucheinträge aus der Zeit von Sontags Krebsbehandlung sind rar, und den wenigen, die sich finden, merkt man an, wie stark Brustkrebs das Denken beeinträchtigt, insbesondere durch die Chemotherapie, die schwere und langfristige kognitive Schäden verursachen kann. Im Februar 1976, während ihrer Chemotherapie, notiert Sontag: »Ich brauche eine mentale Turnhalle.« 5Der nächste Eintrag folgt Monate später, im Juni 1976: »Wenn ich wieder Briefe schreiben kann, dann …« 6
In Jacqueline Susanns Roman Das Tal der Puppen aus dem Jahr 1966 stirbt eine Figur namens Jennifer, die sich vor einer Brustamputation fürchtet, nach ihrer Diagnose an einer freiwilligen Überdosis. »Mein ganzes Leben lang«, sagt Jennifer, »hat das Wort Krebs Tod, Schrecken und etwas so Fürchterliches bedeutet, dass es mich schaudern ließ. Und jetzt habe ich ihn. Aber das Komische daran ist, dass mir der Krebs selbst kein bisschen Angst macht – selbst wenn er sich als mein Todesurteil erweisen sollte. Es geht mir nur darum, wie er sich auf mein Leben […] auswirkt.« 7Auch die feministische Schriftstellerin Charlotte Perkins Gilman, Brustkrebsdiagnose 1932, begeht Selbstmord: »Ich habe Chloroform dem Krebs vorgezogen.« 8Jacqueline Susann, diagnostiziert mit 44, stirbt 1974 an Brustkrebs, dem Jahr von Sontags Diagnose.
Bei der Dichterin Audre Lorde wird 1978 Brustkrebs festgestellt, auch mit 44. Anders als bei Sontag kommen bei Lorde die Worte »ich« und »Krebs« zusammen vor, vor allem in ihren berühmten Krebstagebüchern , in denen sie über ihre Diagnose und Behandlung reflektiert und festhält: »Ich möchte nicht, dass dieser Bericht nur von Leiden spricht. Ich möchte nicht, dass dieser Bericht nur von Tränen spricht.« 9Die vom Brustkrebs ausgelöste Krise »untersucht sie wie Kriegerinnen auf eine weitere zwar unerwünschte, aber nützliche Waffe«. 10Lorde stirbt 1992 an Brustkrebs.
Wie Lorde schildert die britische Schriftstellerin Fanny Burney, die ihren Brustkrebs 1810 entdeckt, ihre Brustamputation aus Ich-Perspektive. Ihre Brust wird ohne Betäubung entfernt. Sie ist während der gesamten Operation bei Bewusstsein.
… nicht tage- oder wochen-, sondern monatelang konnte ich über dieses grässliche Geschäft nicht sprechen, ohne es wieder durchleben zu müssen! Nicht einmal daran denken konnte ich ungestraft! Ich war krank, die kleinste Frage brachte mich durcheinander – sogar jetzt noch, 9 Monate später, bekomme ich Kopfweh, wenn ich an meinem Bericht sitze! Und dieser erbärmliche Bericht … 11
»Aphoristisch schreiben«, notiert Sontag in ihr Tagebuch, als sie darüber nachdenkt, wie sie in Krankheit als Metapher über Krebs schreiben soll. 12Brustkrebs beunruhigt ein »ich«, das »von diese[m] grässlichen Geschäft« sprechen und »diese[n] erbärmliche[n] Bericht« abgeben will. Dieses »ich« wird manchmal vom Krebs zum Verschwinden gebracht und manchmal vorsorglich von dem Menschen, für den es steht, sei es durch Selbstmord, sei es durch Trotz, der es verbietet, »ich« und »Krebs« zusammenzudenken:
»Bei [geschwärzt] wurde 2014 Brustkrebs diagnostiziert, mit einundvierzig.«
Oder:
»Bei mir wurde 2014 [geschwärzt] diagnostiziert, mit einundvierzig.«
Bei der Schriftstellerin Kathy Acker wird 1996 Brustkrebs diagnostiziert, mit 49. »Ich werde diese Geschichte so erzählen, wie ich sie kenne«, beginnt »Das Geschenk der Krankheit« – ein ungewöhnlich offener Krebsbericht, den sie für den Guardian schrieb: »Es kommt mir immer noch komisch vor. Keine Ahnung, warum ich es überhaupt erzähle. Sentimental war ich nie. Vielleicht nur um zu sagen, es ist passiert.« Acker weiß nicht, warum sie die Geschichte erzählen soll und tut es doch: »Letzten April wurde bei mir Brustkrebs festgestellt.« 13Acker stirbt daran 1997, keine 18 Monate nach der Diagnose.
Obwohl Brustkrebs jede:n mit Brustgewebe treffen kann, sind es vor allem Frauen, die seinen Katastrophen zum Opfer fallen. Sie suchen Frauen heim als früher Tod, schmerzvoller Tod, Behinderungen infolge der Behandlung, Behinderungen als Spätfolgen der Behandlung, Verlust von Partner:innen, Einkommen und Leistungsfähigkeit; doch diese Katastrophen kommen auch aus dem gesellschaftlichen Unterboden der Krankheit – ihrer Klassenpolitik, ihren geschlechtsspezifischen Markierungen und rassenspezifischen Sterblichkeitsraten, ihrem rotierenden Wust aus wirren Anweisungen und brutalen Mystifizierungen.
Es gibt nur wenige Krankheiten mit ähnlich katastrophischen Folgen für Frauen wie Brustkrebs und noch weniger bringen ein vergleichbares Repertoire an Leid mit sich. Und dies betrifft nicht nur die Krankheit selbst, sondern auch, was thematisiert wird und was nicht beziehungsweise ob überhaupt etwas thematisiert wird oder nicht, und wie. Brustkrebs ist eine Krankheit, die auf verstörende Art nach der Form fragt.
In Reaktion darauf kommt es häufig zu konkurrierenden Unkenntlichmachungen und Interpretationen und Korrekturen dieser Unkenntlichmachungen. Für Lorde, eine schwarze, lesbische, feministische Dichterin, ist es der Krebs, der unkenntlich macht, und das Schweigen um die Krankheit wendet sie ins Politische: »Meine Arbeit besteht darin, das Schweigen zu bewohnen, mit dem ich bisher gelebt habe, und es mit mir selbst zu füllen, bis es wie hellster Tag und lautester Donner klingt.« 14Für Sontag, eine großbürgerliche, weiße Kulturkritikerin, betrifft die Unkenntlichmachung das Persönliche. Wie sie unter möglichen Titeln für das, was Krankheit als Metapher werden sollte, festhielt: »Nur über sich selbst nachzudenken heißt, über den Tod nachzudenken.« 15
Ein vierter Titel, den Sontag für ihr nie ausgeführtes Buchprojekt in Erwägung zog, war Frauen und Tod . Sie behauptet: »Frauen sterben nicht füreinander. Es gibt keinen ›schwesterlichen‹ Tod.« 16Aber Sontag hat Unrecht, denke ich. Ein schwesterlicher Tod wäre nicht, dass Frauen füreinander sterben: Das wäre ein paralleler, entfremdeter Tod. Ein schwesterlicher Tod wäre, wenn Frauen daran sterben, Frauen zu sein. Die queere Theoretikerin Eve Kosofsky Sedgwick, die ihre Brustkrebsdiagnose 1991 mit 41 erhielt, schrieb über die Brustkrebskultur und ihren erschreckenden, brutalen Zwang zur Geschlechtlichkeit. Angesichts ihrer Diagnose habe sie gedacht: »Scheiße, jetzt muss ich wohl wirklich eine Frau sein.« 17Wie S. Lochlann Jain im Kapitel »Krebs-Butch« ihres Buches Malignant. How Cancer Becomes Us formuliert: »[E]in reizendes Diagnöschen droht dich reinzusaugen, in den archetypischen Tod, den der weibliche Körper stempeln geht.« 18Sedgwick stirbt 2009 an Brustkrebs.
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