»Bring ihn zum Schweigen«, flüsterte Nourse. Svengaard sah in das blasse Gesicht, sah die geborstenen Adern auf den Wangen, fühlte das matte, schlaffe Fleisch. Nourses Lider flatterten. Er öffnete die Augen.
Calapine hob seinen Kopf an. »Überlaßt ihn mir«, bat sie. Er versuchte den Kopf zu drehen, sie anzusehen. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Sie legte seinen Kopf in ihren Schoß und streichelte seine Stirn. »Das hat er einmal sehr geliebt«, sagte sie. »Und jetzt geh und hilf den anderen, Doktor.«
»Cal«, sagte Nourse, »oh, Cal, ich … es tut weh …«
»Warum hilfst du ihnen?« fragte Glisson. »Ich verstehe dich nicht, Boumour. Du bist nicht logisch. Was nützt es uns, wenn du ihnen hilfst?«
Er sah hinauf durch das offene Segment der Kontrollkugel; Calapine saß allein auf der Tribüne der Tuyère. Die Lichter spielten langsam über ihr Gesicht. Vor ihr tanzte eine glühende Pyramide von Doppelprojektoren.
Man hatte Glisson zwar befreit, doch er saß noch immer auf dem Fahrzeug und die Prothesenverbindungen seiner Arme baumelten leer herab. Für Lizbeth Durant hatte man eine Spezialliege gebracht, und Harvey kniete neben ihr. Boumour stand mit dem Rücken zu Glisson und sah zur Kugel hinauf.
Svengaard kam langsam hinter der Kugel hervor, eine dunkle Gestalt vor roten Schatten. Plötzlich flutete Licht durch die Halle. Die großen Lampen schalteten sich bei Einbruch der Dunkelheit draußen automatisch ein. Svengaard blieb bei Lizbeth stehen, sah sie an, klopfte Harvey kräftig auf die Schulter. »Sie ist kräftig. Sie erholt sich schon wieder«, beruhigte er ihn.
Lizbeths Augen folgten ihm, als er um die Kugel herumging, um einen Blick hineinzuwerfen. Svengaards Schultern trugen die Last unendlicher Müdigkeit, aber sein Gesicht drückte Zuversicht aus. Er war ein Mann, der sich selbst gefunden hatte.
»Calapine«, meldete Svengaard, »der letzte ist nun ins Hospital gebracht worden.«
»Ich sehe es«, antwortete sie und blickte zu den Spionen hinauf, die alle besetzt waren. Mehr als die Hälfte der Regenten hatte man festgesetzt — sie waren wahnsinnig geworden. Tausende waren gestorben. Einige tausend hatten schwere Verletzungen erlitten. Die restlichen überwachten die Kontrollkugel. Sie seufzte, wunderte sich über ihre Gedanken, wie sie sich dem Schicksal stellten, daß der Traum von Unsterblichkeit ausgeträumt war. Ihre eigenen Empfindungen verwirrten sie. Irgendwie fühlte sie sich erleichtert.
»Und was ist mit Schruille?« fragte sie.
»An einer Tür zerschmettert«, antwortete Svengaard. »Er ist … tot.«
Sie seufzte wieder. »Und Nourse?«
»Spricht gut auf die Behandlung an.«
»Versteht Ihr nicht, was mit Euch geschehen ist?« fragte Glisson. Seine Augen glitzerten, als er zu Calapine hinaufblickte.
Calapine sah auf ihn hinunter. »Wir haben eine gefühlsmäßige Anstrengung durchgestanden«, antwortete sie mit klarer Stimme, »und sie hat die ausgewogene Balance unseres Stoffwechsels verändert. Ihr habt uns durch Tricks dazu getrieben. Das Ergebnis ist eindeutig — es gibt keine Rückkehr.«
»Dann habt Ihr also verstanden«, stellte Glisson fest. »Jeder Versuch, Euer System in die alten Formen zurückzuzwingen, wird nur Langeweile erzeugen und das allmähliche Versinken in Apathie.«
Calapine lächelte. »Ja, Glisson. Das wollen wir nicht. Wir sind nun begierig nach einer neuen Lebendigkeit, von der wir nicht wußten, daß es sie gibt.«
»Dann habt Ihr also verstanden«, wiederholte Glisson, und Groll klang in seiner Stimme mit.
»Wir haben den Rhythmus des Lebens gebrochen«, fuhr Calapine fort. »Jedes Leben hat seinen Rhythmus, aber wir sind aus dem Gleichschritt gekommen. Ich vermute, daß es dieser Eingriff von außen bei jenen Embryos war, der den Rhythmus bei ihnen wiederherstellte.«
»Nun denn«, meinte Glisson, »je eher Ihr uns die Dinge überlassen werdet, desto eher wird sich alles …«
»Euch?« fragte Calapine erzürnt. Sie sah hinaus in das gleißende Licht der Halle. »Eher würde ich uns alle verurteilen …«
»Aber Ihr sterbt!«
»Du auch«, stellte Calapine fest.
Svengaard schluckte. Es würde nicht leicht sein, die alte Feindschaft beizulegen. Er wunderte sich über sich selbst — er, der zweitklassige Chirurg, der plötzlich zum Arzt geworden war, der sich um Menschen sorgte, die ihn brauchten. Durant hatte das erkannt: Man mußte gebraucht werden.
»Vielleicht habe ich einen Plan, den man akzeptieren könnte, Calapine«, sagte Svengaard.
»Dich werden wir anhören«, antwortete sie, und in ihrer Stimme schwang Zuneigung. Sie musterte Svengaard, als er nach Worten suchte und dachte daran, daß dieser Mann Nourses Leben und das vieler anderer gerettet hatte.
»Die Cyborgs verfügen über eine Technik, Emotionen zu einer mehr oder weniger leitbaren Stasis zu bringen«, erklärte Svengaard. »Ist das einmal geschehen, so glaube ich zu wissen, wie sich die Enzym-Oszillationen bei den meisten von Euch dämpfen lassen.«
Calapine schluckte. Die Spione oben flackerten, als die Beobachter verlangten, in die Verbindungskanäle eingeschaltet zu werden. Natürlich wollten sie Fragen stellen. Sie selbst hatte auch Fragen bereit, aber sie wußte nicht, ob sie diese aussprechen konnte. In einem der Prismen sah sie ihr Spiegelbild, und es erinnerte sie an Lizbeths Augen, als sie flehend auf dem Fahrzeug hockte.
»Unendlich langes Leben kann ich nicht versprechen«, fuhr Svengaard fort, »aber ich glaube, viele von Euch können noch einige tausend Jahre leben.«
»Warum sollten wir ihnen helfen?« widersprach Glisson. Es klang fast eigensinnig.
»Auch ihr seid Versager«, stellte Svengaard fest. »Seht ihr das nicht ein?« Er bemerkte, daß er die letzten Worte geschrien hatte.
»Schrei mich nicht an!« knurrte Glisson.
Also haben sie doch Gefühle, dachte Svengaard. Stolz … Wut …
»Leidest du immer noch unter der Illusion, die Lage in der Hand zu haben?« fragte Svengaard und deutete auf Calapine. »Diese Frau hier könnte noch immer jeden Nicht-Regenten auf der Erde vernichten.«
»Hör auf ihn, du Cyborgnarr«, riet Calapine.
»Wir wollen das Wort ›Narr‹ nicht allzu freizügig anwenden«, schlug Svengaard vor.
»Hüte deine Zunge, Svengaard«, tadelte Calapine, »unsere Geduld ist nicht unerschöpflich.«
»Auch nicht Eure Dankbarkeit, eh?« fragte Svengaard.
Sie lächelte bitter. »Wir reden doch vom Überleben, nicht wahr?«
Svengaard seufzte. Konnte es wirklich gelingen, ihnen diese Illusion von ewigem Leben zu nehmen?
»Also Überleben«, sagte Svengaard.
»Wir wollen doch versuchen, einander zu verstehen«, schlug Calapine vor. »Es gibt viele unter uns, die darauf bestehen, es sei eure Pflicht gewesen, uns zu helfen. Ihr seid immer noch unsere Gefangenen. Es gibt andere, die verlangen, daß ihr eure ganze Untergrundbewegung aufdeckt und uns ausliefert.«
»Ja, wir wollen einander doch verstehen«, pflichtete ihr Svengaard zu. »Wer sind Eure Gefangenen? Ich — kein Mitglied des Untergrunds, der wenig davon weiß; Glisson, der mehr weiß, aber sicher nicht alles; Boumour, einer der entkommenen Pharmazeuten, der noch weniger weiß als Glisson; dann die Durants, deren Wissen möglicherweise ein wenig über ihre Zelle hinausreicht. Was wollt Ihr damit erreichen, wenn Ihr uns aussaugt?«
»Deinen Plan, uns zu retten«, gab Calapine zur Antwort.
»Mein Plan verlangt Zusammenarbeit, keinen Zwist«, entgegnete Svengaard.
»Und er wird uns nur ein Fortleben garantieren, nicht aber den ursprünglichen Zustand, nicht wahr?« fragte Calapine.
»Das sollte Euch doch genügen«, meinte Svengaard. »Es würde Euch die Möglichkeit zur Reife, zur Nützlichkeit geben.« Er deutete auf ihre Umgebung. »Ihr seid hier in Eurer Unreife erstarrt! Ihr habt nur gespielt — und ich biete Euch eine Chance, wirklich zu leben.«
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