»Daß du im Anschluß daran überlebt hast, finde ich ermutigend, Sir.«
»Das dachte ich mir schon. Deshalb habe ich es auch erwähnt. Ansonsten ist es keine Erfahrung, die ich als Beispiel hinstellen möchte.«
Miles schaute zu seinem Vater auf. »Habe … ich das Richtige getan, Sir? Gestern abend?«
»Ja«, sagte der Graf einfach. »Ein Richtiges. Vielleicht nicht das beste aller möglichen Richtigen. In drei Tagen denkst du vielleicht an eine klügere Taktik, aber du warst zu dem Zeitpunkt eben der Mann vor Ort. Ich versuche, meine Feldkommandanten nicht im nachhinein zu kritisieren.«
Zum ersten Mmal, seit er Kyril verlassen hatte, hob sich Miles’ Herz in seiner schmerzenden Brust.
Miles dachte, sein Vater brächte ihn vielleicht in den großen und vertrauten Komplex des Kaiserlichen Militärkrankenhauses, ein paar Kilometer entfernt auf der anderen Seite der Stadt, aber sie fanden eine Krankenstation, die näher war, drei Stockwerke tiefer im Hauptquartier des Sicherheitsdienstes.
Diese Einrichtung war klein, aber komplett, mit einigen Untersuchungsräumen, Privatzimmern, Zellen für die Behandlung von Gefangenen und von bewachten Zeugen, einem Operationssaal und einer geschlossenen Tür mit einer Aufschrift, die frösteln machte: Labor für Vernehmungschemie.
Illyan mußte schon vorher hier angerufen haben, denn ein Sanitäter wartete, um sie in Empfang zu nehmen. Ein Sanitätsoffizier des Sicherheitsdienstes traf kurz darauf ein, etwas atemlos noch. Er glättete seine Uniform und salutierte pedantisch vor Graf Vorkosigan, bevor er sich Miles zuwandte.
Miles stellte sich vor, daß der Arzt mehr daran gewöhnt war, Leute nervös zu machen, als sich von ihnen nervös machen zu lassen, und daß ihm diese Umkehrung der Rollen unangenehm war. War es eine Aura vergangener Gewalt, die seinem Vater immer noch nach all den Jahren anhaftete? Die Macht, die Geschichte? Ein persönliches Charisma, das vormals energische Männer niederzwang wie kuschende Hunde? Miles konnte diese Ausstrahlung vollkommen deutlich spüren, und doch schien sie auf ihn nicht die gleiche Wirkung zu haben.
Vielleicht war er akklimatisiert. Der frühere Lordregent war der Mann, der — ungeachtet irgendwelcher Krisen (außer einem Krieg) — jeden Tag zwei Stunden lang Mittagspause gemacht hatte und in seine Residenz verschwunden war.
Nur Miles kannte diese Stunden von innen: wie der große Mann in der grünen Uniform in fünf Minuten ein Sandwich runterschlang und dann die nächsten anderthalb Stunden auf dem Fußboden verbrachte zusammen mit seinem Sohn, der nicht gehen konnte, und mit ihm spielte und sprach und ihm laut vorlas.
Manchmal, wenn Miles in hysterischem Widerstand gegen irgendeine neue schmerzhafte physikalische Therapie verkrampft war und damit seine Mutter und sogar Sergeant Bothari erschreckte, dann war sein Vater der einzige gewesen, der fest darauf bestanden hatte, daß er diese zehn besonders quälenden Beinstreckungen über sich ergehen ließ, sich artig der Behandlung mit Hypospray unterzog, eine weitere Runde von Operationen duldete, oder die eisigen Chemikalien, die auf seinen Venen brannten.
»Du bist ein Vor. Du darfst deine Lehensleute nicht mit einer solchen Vorstellung der Unbeherrschtheit erschrecken, Lord Miles.«
Der stechende Geruch dieser Krankenstation und der angespannte Doktor weckten eine Flut von Erinnerungen. Kein Wunder, überlegte Miles, daß es ihm nicht gelungen war, Metzov genügend zu fürchten. Als Graf Vorkosigan gegangen war, wirkte die Krankenstation völlig leer.
In dieser Woche schien sich im Hauptquartier des Sicherheitsdienstes nicht viel zu ereignen. Die Krankenstation war einschläfernd ruhig, abgesehen von dem Rinnsal von Mitarbeitern des Hauptquartiers, die von dem nachgiebigen Sanitäter Medikamente gegen Kopfweh, Erkältung oder Brummschädel schnorrten. Ein paar Techniker verbrachten an einem Abend drei Stunden damit, aufgrund eines Eilauftrages im Labor herumzuklappern, und eilten dann wieder weg. Der Arzt brachte Miles’ gerade ausbrechende Lungenentzündung zum Stillstand, bevor sie sich in eine galoppierende entwickelte. Miles brütete vor sich hin, wartete darauf, daß die auf sechs Tage angesetzte Antibiotikatherapie ihren Lauf nahm und plante Details für einen Heimaturlaub in Vorbarr Sultana, der ihm sicherlich bevorstand, wenn die Medizinmänner ihn entließen.
»Warum kann ich nicht nach Hause gehen«, beschwerte sich Miles bei seiner Mutter, als sie ihn besuchte. »Niemand sagt mir irgend etwas. Wenn ich nicht unter Arrest bin, warum kann ich dann keinen Urlaub nehmen? Wenn ich unter Arrest bin, warum sind dann die Türen nicht abgesperrt? Ich fühle mich, als würde ich in der Luft hängen.«
Gräfin Cordelia Vorkosigan gab ein undamenhaftes Schnauben von sich. »Du hängst in der Luft, mein Kleiner.« Ihr betanischer Akzent klang warm für Miles’ Ohren, trotz ihres sarkastischen Untertons. Sie warf den Kopf zurück — sie trug ihr kastanienbraunes, mit grauen Fäden durchsetztes Haar heute nach hinten zurückgesteckt und lose über den Rücken fallend, wo es über der herbstbraunen Jacke schimmerte, die mit silberner Stickerei besetzt war, und bis zu den schwingenden Röcken einer Frau der VorKlasse reichte. Sie hatte auffallende graue Augen, und ihr bleiches Gesicht mit den darüber hinweghuschenden Gedanken wirkte so lebendig, daß man kaum merkte, keine außergewöhnliche Schönheit vor sich zu haben. Einundzwanzig Jahre galt sie schon als Vor-Dame im Kielwasser des Großen Mannes, aber immer noch erschien sie so unbeeindruckt wie je von barrayaranischen Hierarchien — allerdings nicht, dachte Miles, unberührt von barrayaranischen Wunden.
Also, warum denke ich nie von meinem Ziel als einem Schiffskommando von der Art, wie es meine Mutter vor mir hatte?
Captain Cordelia Naismith vom Betanischen Astronomischen Erkundungsdienst hatte sich der riskanten Aufgabe gewidmet, das Geflecht der Wurmlöcher Sprung um Sprung auszudehnen, für die Menschheit, für pures Wissen, für den wirtschaftlichen Fortschritt von Kolonie Beta, für … — was hatte sie motiviert? Sie hatte ein mit sechzig Personen bemanntes Erkundungsschiff befehligt, weit weg von zu Hause und von Hilfe — es gab bestimmte beneidenswerte Aspekte ihrer früheren Karriere, das stand fest. Die Befehlskette zum Beispiel war eine gesetzliche Fiktion gewesen, draußen in der unbekannten Weite, und die Wünsche des betanischen Hauptquartiers waren nur Gegenstand von Spekulationen und Wetten.
Sie bewegte sich so unspektakulär durch die barrayaranische Gesellschaft, daß nur ihre vertrautesten Beobachter erkannten, wie losgelöst sie von ihr war, niemanden fürchtend, nicht einmal den furchtbaren Illyan, von niemandem kontrolliert, nicht einmal vom Admiral selbst. Es war die beiläufige Furchtlosigkeit, schloß Miles, die seine Mutter so beunruhigend machte. Des Admirals Captain. In ihren Fußstapfen zu folgen wäre, wie durchs Feuer zu gehen.
»Was geht dort draußen vor sich?«, fragte Miles. »Hier hat man fast soviel Spaß wie in Einzelhaft, weißt du? Hat man beschlossen, daß ich alles in allem ein Meuterer bin?«
»Ich glaube nicht«, sagte die Gräfin. »Sie entlassen die anderen — deinen Leutnant Bonn und die übrigen — nicht gerade unehrenhaft, aber ohne Abfindungen oder Pensionen oder diesen Status des kaiserlichen Lehensmanns, der barrayaranischen Männern soviel zu bedeuten scheint …«
»Stell es dir als eine komische Art von Reservist vor«, riet Miles. »Was ist mit Metzov und den Rekruten?«
»Er wird auf dieselbe Art entlassen. Er hat am meisten verloren, denke ich.«
»Sie lassen ihn einfach los?« Miles runzelte die Stirn.
Gräfin Vorkosigan zuckte die Achseln. »Weil es keine Toten gab, kam Aral zu der Überzeugung, daß er kein Kriegsgerichtsverfahren mit einer härteren Strafandrohung ansetzen konnte. Man beschloß, die Rekruten mit keinerlei Vorwürfen zu belasten.«
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