»Was?« Miles schluckte, um seine Stimme wieder normal klingen zu lassen. »Leutnant, ich bin doch nicht vom Kaiserlichen Sicherheitsdienst festgenommen, oder?«
Der Leutnant holte ein Paar Handschellen hervor und schickte sich an, Miles an den großen Sergeant anzuhängen. Overholt lautete der Name auf dem Abzeichen des Mannes, was Miles innerlich zu Overkill umtaufte. Der Sergeant brauchte nur seinen Arm zu heben, um Miles daran wie eine Katze baumeln zu lassen.
»Wie lang?«
»Sie sind vorläufig verhaftet, bis zu einer weiteren Untersuchung«, sagte der Leutnant formell. »Auf unbestimmte Zeit.«
Der Leutnant ging zur Tür, der Sergeant und Miles folgten ihm, letzterer zwangsweise.
»Wohin?« fragte Miles verzweifelt.
»Ins Hauptquartier des Kaiserlichen Sicherheitsdienstes.«
Vorbarr Sultana! »Ich muß noch meine Sachen holen…«
»Ihre Unterkunft wurde schon geräumt.«
»Werde ich wieder hierher kommen?«
»Ich weiß es nicht, Fähnrich.«
Die späte Morgendämmerung überzog Camp Permafrost mit Grau und Gelb, als das Scatcat sie am Shuttle-Landeplatz absetzte. Die suborbitale Kurierfähre der Kaiserlichen Sicherheit saß auf dem eisigen Beton wie ein Raubvogel, der versehentlich in einen Taubenschlag geraten war. Glänzend, schwarz und tödlich, schien sie die Schallmauer zu durchbrechen, indem sie einfach dort verharrte. Der Pilot war auf seinem Posten, die Triebwerke waren bereit für den Start.
Miles schlurfte unbeholfen die Rampe hinter Sergeant Overkill hinauf, wobei die Handschelle kalt an seinem Handgelenk ruckte. Winzige Eiskristalle tanzten im Wind, der aus Nordosten kam. Die Temperatur würde sich heute morgen stabilisieren, er konnte das erkennen durch den besonders trockenen Biß der relativen Feuchtigkeit in seinen Nebenhöhlen. Lieber Gott, es war höchste Zeit, von dieser Insel wegzukommen.
Miles holte ein letztes Mal Luft, dann schlossen sich die Türen der Fähre mit einem schlangenhaften Zischen. Drinnen herrschte dichte, gepolsterte Stille, in die selbst das Heulen der Triebwerke kaum drang. Wenigstens war es warm.
Der Herbst in Vorbarr Sultana war eine schöne Jahreszeit, und heute war ein beispielhafter Herbsttag. Der Himmel war hoch und blau, die Temperatur kühl und vollkommen, und selbst die Beimischung von Industriedunst roch gut. Die Herbstblumen waren noch nicht dem Frost zum Opfer gefallen, aber die von der Erde importierten Bäume hatten schon ihre Herbstfarben angelegt.
Als er aus dem Transporter des Sicherheitsdienstes zum Hintereingang des großen, klotzigen Gebäudes verfrachtet wurde, das das Hauptquartier des Kaiserlichen Sicherheitsdienstes beherbergte, konnte Miles einen Blick auf einen solchen Baum erhaschen. Ein Erdahorn, mit karneolroten Blättern und einem silbergrauen Stamm, auf der anderen Straßenseite. Dann schloß sich die Tür.
Miles hielt sich diesen Baum vor sein geistiges Auge, versuchte ihn zu erinnern, für den Fall, daß er ihn nie wieder sah. Der Leutnant holte Passierscheine heraus, mit denen Miles und Overholt schnell an den Türwachen vorbeikamen, und führte sie durch ein Labyrinth von Korridoren zu einem Paar von Liftrohren. Sie betraten das Rohr, das nach oben führte, nicht das nach unten. Also wurde Miles nicht direkt in den ultrasicheren Zellenblock unter dem Gebäude gebracht.
Ihm wurde klar, was das bedeutete, und er hatte sehnsüchtiges Verlangen nach dem anderen Rohr. Sie wurden in ein Büro auf einem der oberen Stockwerke geführt, an einem Hauptmann vorbei, dann in ein inneres Büro. Ein hagerer, kühler Mann in Zivilkleidung, mit braunem Haar, das an den Schläfen schon grau wurde, saß an einem Tisch mit einer sehr großen Komkonsole und studierte ein Vid. Er blickte zu Miles’ Begleitern auf.
»Danke, Leutnant, Sergeant. Sie können gehen.«
Overholt machte Miles von seinem Handgelenk los, während der Leutnant fragte: »Hm, sind Sie dabei sicher, Sir?«
»Ich nehme an«, sagte der Mann trocken.
Ja, aber was ist mit mir? jammerte Miles innerlich.
Die beiden Soldaten gingen hinaus und ließen Miles allein stehen. Ungewaschen, unrasiert, immer noch in der schwach stinkenden schwarzen Arbeitsuniform, die er — erst gestern abend? — übergezogen hatte. Das Gesicht wettergegerbt, mit seinen geschwollenen Händen und Füßen, die noch in ihren medizinischen Hüllen aus Plastik steckten — seine Zehen krümmten sich jetzt in ihrer matschigen Nährmasse. Keine Stiefel. Während des zweistündigen Fluges hatte er in stoßweise auftretender Erschöpfung gedöst, ohne daß er spürbar erfrischt war. Seine Kehle war rauh, seine Nebenhöhlen fühlten sich an wie mit Verpackungsfasern vollgestopft, und seine Brust tat weh, wenn er atmete.
Simon Illyan, Chef des Kaiserlichen Sicherheitsdienstes von Barrayar, verschränkte seine Arme und musterte Miles langsam, vom Kopf bis zu den Zehen und wieder hinauf. Es gab Miles eine verdrehte Empfindung von deja vu.
Praktisch jeder auf Barrayar fürchtete den Namen dieses Mannes, obwohl nur wenige sein Gesicht kannten. Dieser Effekt wurde von Illyan sorgsam kultiviert, wobei er teilweise — aber nur teilweise — auf dem Erbe seines gefährlichen Vorgängers, des legendären Sicherheitschefs Negri, aufbaute. Illyan und seine Abteilung hatten ihrerseits die Sicherheit von Miles’ Vater in den zwanzig Jahren seiner politischen Karriere gewährleistet und dabei nur einmal einen Fehler begangen, während der Nacht des niederträchtigen Soltoxinattentats.
Auf Anhieb kannte Miles niemanden, den Illyan fürchtete, außer Miles’ Mutter.
Miles hatte einmal seinen Vater gefragt, ob das ein Schuldgefühl sei, wegen des Soltoxins, aber Graf Vorkosigan hatte geantwortet: Nein, das sei nur die anhaltende Wirkung lebhafter erster Eindrücke.
Miles hatte Illyan sein ganzes Leben lang ›Onkel Simon‹ genannt, bis er in die Streitkräfte eingetreten war, danach nannte er ihn ›Sir‹.
Als er jetzt auf Illyans Gesicht schaute, dachte Miles, daß er jetzt endlich den Unterschied verstünde zwischen Ärger und höchstem Ärger.
Illyan beendete seine Inspektion, schüttelte den Kopf und stöhnte: »Wunderbar. Einfach wunderbar.«
Miles räusperte sich. »Bin ich … wirklich unter Arrest, Sir?«
»Das wird dieses Gespräch ergeben«, seufzte Illyan und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Ich bin seit zwei Uhr morgens aufgewesen wegen dieser Eskapade. Gerüchte schwirren überall in den Streitkräften umher, so schnell wie das Vidnetz sie übertragen kann. Die Fakten scheinen alle vierzig Minuten zu mutieren, wie Bakterien. Ich glaube nicht, daß du dir eine öffentlichere Methode der Selbstzerstörung hättest aussuchen können? Versuchen, den Kaiser mit deinem Taschenmesser während der Geburtstagsparade zu ermorden, zum Beispiel, oder während der Hauptverkehrszeit auf dem Großen Platz ein Schaf zu vergewaltigen?« Der Sarkasmus ging über in echte Pein. »Er hatte so große Hoffnungen in dich gesetzt. Wie konntest du ihn so verraten?«
Es war nicht notwendig zu fragen, wer ›er‹ war. Der Vorkosigan.
»Ich … glaube nicht, Sir. Ich weiß es nicht.«
Ein Licht blinkte auf Illyans Komkonsole auf. Er atmete hörbar aus, mit einem scharfen Seitenblick auf Miles, und drückte einen Knopf.
Eine zweite Tür zu seinem Büro, die in der Wand rechts von seinem Schreibtisch verborgen war, glitt zur Seite, und zwei Männer in der grünen Uniform traten ein.
Premierminister Admiral Graf Aral Vorkosigan trug die Uniform so natürlich, wie ein Tier sein Fell trägt. Er war ein Mann von nicht mehr als mittlerer Größe, kräftig gebaut, grauhaarig, mit schweren Kinnbacken und von Narben bedeckt, er hatte fast den Körperbau eines Schlägers und doch auch die durchdringendsten grauen Augen, denen Miles je begegnet war.
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