Der Chef wandte sich seiner Konsole zu, und ich stand auf. Aber ich war nicht gewillt, mich so einfach fortschicken zu lassen, da mir noch einige wichtige Fragen auf der Zunge brannten. „Chef. Habe ich überhaupt keine Pflichten? Nur diese zufälligen Studien, die kein konkretes Ziel haben?“
„Die Sie aber weiterbringen. Ja, Sie haben Pflichten.Erstens sollen Sie studieren. Zweitens sollen Sie sich mitten in der Nacht wecken lassen — oder irgendwo im Flur anhalten lassen — und auf dumme Fragen antworten.“
„Mehr nicht?“
„Was wollen Sie noch? Engel und Trompeten?“
„Nun ja … vielleicht einen Titel. Früher war ich Kurier. Was bin ich jetzt, Hofnarr?“
„Freitag, Sie scheinen dem Bürokratismus zu erliegen. ›Titel‹ — ich bitte Sie! Aber schön. Sie sind Intuitiv-Analytikerin im Stab, allein mir unterstellt. Mit dem Titel verbindet sich aber eine Einschränkung:
Mit keinem Mitglied der analytischen Abteilung des Stabes dürfen Sie über ernsthaftere Dinge reden als über ein Kartenspiel. Schlafen Sie mit den Jungs wenn es Ihnen Spaß macht — in zwei Fällen weiß ich das schon —, aber beschränken Sie die Konversation auf unwichtige Dinge.“
„Chef, ich wünschte, Sie würden nicht soviel Zeit unter meinem Bett verbringen.“
„Nur soviel, wie nötig ist, um die Organisation zu schützen. Freitag Sie wissen, daß das Fehlen von Augen und Ohren nur bedeuten kann, daß sie irgendwo versteckt sind. Sie können davon ausgehen, daß ich zum Schutz der Organisation auch schamlos vorgehen kann.“
„Sie sind wahrhaft schamlos. Chef, beantworten Sie mir noch eine Frage. Wer steht hinter dem Roten Donnerstag? Die dritte Terrorwelle hat sich irgendwie im Sand verlaufen; wird es eine vierte geben?
Was soll das alles?“
„Studieren Sie das Problem doch selbst. Wenn ich Ihnen die Antwort sagte, würden Sie die Wahrheitnicht richtig wissen, man hätte sie Ihnen nur aufgetischt. Studieren Sie die Frage gründlich, und eines Nachts — wenn Sie gerade mal allein schlafen — werde ich Sie danach fragen. Sie werden mir eine Antwort geben und es dann wissen.“
„Um Himmels willen! Wissen Sie denn immer wenn ich allein schlafe?“
„Immer.“ Er fügte hinzu: „Sie können jetzt gehen“ und wandte sich ab.
Als ich das Allerheiligste verließ, lief mir Goldie über den Weg. Da meine Laune nicht die beste war, nickte ich ihr nur zu. Natürlich galt mein Zorn nicht Goldie sondern dem Chef! Verdammt! Hochnäsiger, arroganter Voyeur! Ich ging in mein Zimmer und machte mich an die Arbeit, um mich abzureagieren.
Zuerst rief ich die Namen und Anschriften sämtlicher Shipstone-Firmen ab. Während die Liste ausgedruckt wurde, forderte ich Geschichtsübersichten zu dem gesamten Komplex. Der Computer nannte mir zwei Werke, eine offizielle Konzerngeschichte, verbunden mit einer Biographie Daniel Shipstones und eine inoffizielle Biographie, die mit dem Vermerk „Sensationsmache“ versehen war. Anschließend wies mich die Maschine auf etliche andere Quellen hin.
Ich instruierte das Terminal, mir beide Bücher auszudrucken und forderte Printouts anderer Quellentexte, wenn sie viertausend Worte oder weniger umfaßten; die längeren Texte sollten zusammengefaßt werden. Dann schaute ich mir die Firmenliste an:
Daniel Shipstone Grundbesitz Inc.
Muriel Shipstone Gedächtnis-Laboratorien Shipstone Tempe Shipstone Gobi Shipstone Aden Shipstone Sahara Shipstone Africa Shipstone Death Valley Shipstone KarrooShipstone Never-Never Shipstone L-4
Shipstone L-5
Shipstone Stationärstation Shipstone Tycho Shipstone Ares Shipstone Tiefsee Shipstone Forschungs Inc.
Sears Montgomery Inc.
Prometheus-Stiftung Coca Cola Holding Company Interworld Transport Corporation Hans-und-der-Bohnenstengel Pty.
Morgan Associates Kolonialgesellschaft Out Systems Billy Shipstone Behindertenschule Wolf Creek Pass Naturpark Año Nuevo Wildschutz Shipstone Museum und Schule für die Visuellen Künste Meine Begeisterung beim Betrachten dieser Liste hielt sich in Grenzen. Natürlich war mir bekannt gewesen daß das Shipstone-Imperium groß sein mußte — wer hat nicht ein halbes Dutzend Shipstone-Energieträger in Reichweite, die im Keller oder im Fundament des Hauses eingebauten Geräte gar nicht mal mitgerechnet? In diesem Augenblick aber wurde mir klar, daß eine Untersuchung dieses Ungeheuers ein ganzes Leben beanspruchen mochte. So sehr interessierte ich mich denn doch nicht für die Shipstones.
Ich tastete mich vorsichtig am Rand des Problems entlang, als Goldie hinter meiner Konsole erschienund mir mitteilte, daß es Zeit sei, sich den Hafersack umzuhängen. „Außerdem habe ich Anweisung, dafür zu sorgen, daß du am Tag nicht mehr als acht Stunden lang am Terminal sitzt und jedes Wochenende voll frei nimmst.“
„Aha, du tyrannischer Schweinehund!“
Wir machten uns auf den Weg zum Speisesaal.
„Freitag …“
„Ja, Goldie?“
„Du findest den Chef mürrisch und manchmal schwer zu ertragen.“
„Da muß ich dich berichtigen. Er stellt sich ständig schwierig an.“
„Hmm, ja. Aber du weißt nicht, daß er laufend Schmerzen hat.“ Sie fügte hinzu: „Er kann keine Mittel mehr dagegen nehmen.“
Stumm gingen wir nebeneinander her, während ich mit dieser Nachricht fertigzuwerden versuchte.
„Goldie? Was stimmt denn mit ihm nicht?“
„Im Grunde nichts. Ich würde sagen, er ist bei guter Gesundheit — für sein Alter.“
„Wie alt ist er?“
„Keine Ahnung. Nach Klatsch und Tratsch müßte er über hundert sein. Wieviel darüber weiß ich aber nicht.“
„O nein! Goldie, als ich meine Arbeit bei ihm aufnahm, kann er nicht mehr als siebzig gewesen sein! Er benutzte zwar Krücken, war aber noch sehr munter.
Er kam damit so schnell voran wie jeder andere auf seinen richtigen Beinen.“
„Nun ja … es ist nicht weiter wichtig. Du solltest aber daran denken, daß er Schmerzen hat. Wenn er dich grob behandelt, spricht daraus der Schmerz. Erhat eine hohe Meinung von dir.“
„Wie kommst du darauf?“
„Ah … ich habe schon zuviel über meinen Patienten verraten. Gehen wir essen.“
Mein Studium galt dem Shipstone-Firmengeflecht nicht aber dem Shipstone-Energieträger. Einen Shipstone richtig zu studieren, hätte vorausgesetzt, daß ich wieder die Schulbank drückte, einen Doktor in Theoretischer Physik baute und meine Kenntnisse in Festkörperphysik und Plasmaphysik ausbaute, mir dann bei Shipstone einen Posten suchte und meine Vorgesetzten dermaßen von meiner Firmentreue und meinem Können überzeugte, daß sie mich über kurz oder lang in den inneren Kreis derjenigen aufnahmen, die die Herstellung der Shipstones in der Endphase überwachten.
Da dies eine etwa zwanzigjährige Entwicklung war, die ich schon in jungen Jahren hätte antreten müssen, ging ich davon aus, daß der Chef diesen Weg nicht für mich vorgesehen hatte.
So will ich denn aus der offiziellen oder Propaganda-Denkschrift zitieren: PROMETHEUS, eine Kurzbiographie und Übersicht über die Unvergleichlichen Erfindungen Daniel Thomas Shipstones, B. S., M. A. Dr. phil., Ll. D., L. H. D., und über das Wohltätige System, dessen Begründer er war.
… so erkannte der junge Daniel Shipstone sofort, daß das Problem nicht der Energiemangel war, sondern den Transport der Energie betraf. Energie gibt es überall — im Sonnenlicht, im Wind, in Bergbächen, in Temperaturunterschieden aller Art, wo immer sie auftreten, in der Kohle, infossilem Öl, in radioaktiven Erzen, in Grünpflanzen. Besonders in den Ozeantiefen und im Weltraum steht freie Energie in für die Menschheit unbegreiflichen Mengen zur Verfügung.
Wer von ›Energieknappheit‹ und ›Energiesparen‹ redete verstand die Situation nicht richtig. Die Energie regnete förmlich vom Himmel; was noch fehlte, war der geeignete Eimer, um sie aufzufangen.
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