Dies war die Phantasievorstellung, durch die Lawler aus seinem Schla f gerissen worden war. In der Regel neigte er keineswegs dazu, sich auf derart realitätsferne Unternehmungen einzulassen. Seine jahrelange Praxis als Arzt — und auch wenn er nicht ein medizinisches Genie war wie sein Vater, so war er doch ein hart arbeitender und einigermaßen erfolgreicher Allgemeinpraktiker und leistete unter den gegebenen Umständen ziemlich viel — hatte ihn zum Realismus erzogen und zu einer recht pragmatischen Einstellung gegenüber fast allen Dingen. Dennoch war er in dieser Nacht irgendwie zu der Überzeugung gelangt, daß er das einzige Wesen auf der Insel sei, dem es möglicherweise gelingen konnte, diese Gillies, diese ›Kiemlinge‹, zu überreden, die Angliederung einer Meerwasser-Entsalzungsanlage an ihr Kraftwerk zu erlauben, Ja, er würde erfolgreich sein, wo alle anderen versagt hatten.
Eine recht kleine Chance, das wußte er. Doch in den frühen Morgenstunden neigen Chancen manchmal dazu, üppiger auszusehen als im klaren Licht des Vormittags.
Was es auf der Insel bislang an Elektrizität gab, stammte aus unhandlichen, wenig effizienten Chemobatterien, aus Säulen von Zinupfer-Scheiben, getrennt durch in Sole getränkte Streifen aus Kriechkraut. Die Gillies — die ›Kiemlinge‹, ›Sassen‹, also die Hydraner, die dominante Spezies auf der Insel, beziehungsweise der Welt, auf der Lawler sein ganzes Leben zugebracht hatte — arbeiteten schon, soweit er sich erinnern konnte, an einer verbesserten Methode der Gewinnung von Elektroenergie, und nun endlich, so wenigstens dampfte es aus der Gerüchteküche im Ort, stand das neue E-Werk kurz vor der Fertigstellung und sollte ans Netz gehen heute oder morgen, aber ganz bestimmt nächste Woche! Und wenn den Gillies dies tatsächlich gelingen sollte, bedeutete das für beide Rassen eine einschneidende Veränderung. Die Kiemlinge hatten sich auch schon (allerdings wenig begeistert) bereit erklärt, den Menschen einen Teil der neuen Elektrizität zur Nutzung abzugeben, was nach jedermanns Ansicht grandios von ihnen war. Noch viel großartiger aber wäre es, jedenfalls für die achtundsiebzig Menschen, die auf der kleinen engen Insel Sorve ein karges Leben von minderer Qualität fristeten, wenn die Gillies sich erweichen ließen und den Menschen gestatteten, daß ihre Fabrik auch zur Wasserentsalzung benutzt werde, damit die Menschen nicht weiter auf die gnädige Willkür der sorvesischen Regenfälle angewiesen wären, was die Trinkwasserversorgung anging. Es mußte schließlich auch den Kiemlingen einleuchten, daß für ihre menschlichen Metöken das Dasein unendlich viel leichter sein würde, wenn diese zuverlässig mit einer unbegrenzten Trinkwasserversorgung rechnen konnten.
Aber natürlich hatten die Gillies bisher noch durch nichts erkennen lassen, daß sie sich darüber Gedanken machten. Sie hatten noch nie besonderen Eifer bewiesen, dem Häuflein Menschen in ihrer Mitte irgendwelche Erleichterungen zu verschaffen. Trinkwasser war für Menschen lebensnotwendig, doch den Gillies konnte das piepsegal sein. Was Menschen möglicherweise brauchten, sich wünschten oder zu erhalten hoffen mochten, das berührte die Gillies nicht im geringsten. Und so war es denn die Vision gewesen, daß er — im Alleingang und durch seine Überzeugungskraft — das alles ändern könne, was Lawler in der verflossenen Nacht den Schlaf gekostet hatte.
Aber — zum Teufel damit! Wer nichts wagt, kann nichts gewinnen.
* * *
Lawler war in der Tropennacht barfuß und trug nur einen gelben Sarong aus Wasserlattichfasern um die Hüften. Die Luft warm und schwer, die See ruhig. Die Insel — dieses Geflecht aus lebendem, halb- lebendem und ehemals lebendem Gewebe, das auf der Oberfläche des weltumspannenden weiten Ozeans dahintrieb — schwankte nahezu unmerklich in der Dünung unter seinen Füßen. Wie alle bewohnten Inseln auf Hydros war auch Sorve ein wurzelloser, frei wandernder Herumtreiber und zog überall dorthin, wo ihn die Strömungen, die Winde und die gelegentlichen Flutwellen hintreiben mochten. Lawler spürte, wie die dichtverflochtenen Ruten des Bodens unter seinen Schritten nachgaben und sich dehnten, und er hörte die See wenige Meter weiter unten klatschen. Aber seine Bewegungen waren leicht und mühelos, und sein langer schlanker Körper paßte sich automatisch dem schwankenden Rhythmus der Insel an. Es war für ihn etwas ganz Natürliches.
Die milde Nacht war allerdings trügerisch. Fast das ganze Jahr hindurch war Sorve alles andere als ein angenehmer Aufenthaltsort. Das Klima wechselte zwischen Heißtrocken- und sanft Naßkalten-Perioden, dazwischen nur ein kurzes sanft-sommerliches Zwischenspiel, wenn Sorve in milden feuchten Äquatorialbreiten dahintrieb… die kurze Illusion eines angenehmen, leichten Lebens. Und das war sie jetzt, die ›gute‹ Zeit im Jahr. Es gab Nahrung im Überfluß, und die Lüfte wehten süß. Die Inselbewohner genossen es. Der Rest des Jahres bedeutete eher einen Kampf ums Überle ben.
Ohne Eile schritt Lawler um das Reservoir herum und über die Rampe zur Unterterrasse hinab. Von dort fiel die Insel sacht bis zum Ufer ab. Er kam an den verstreuten Gebäuden des Werftgeländes, von wo aus Nid Delagard sein maritimes Imperium regierte, und an dem Gewirr unbestimmt kugeliger Strukturen der Hafenfabriken, in denen Metall — Nickel, Eisen, Kobalt, Vanadium, Zinn — aus dem Gewebe von niederen Seegeschöpfen vermittels langsamer und ineffizienter Prozesse gewonnen wurde. Zwar konnte man kaum etwas deutlich sehen, doch nach vierzig Jahren auf dieser einen kleinen Insel bereitete es Lawler keinerlei Schwierigkeiten, sich auch im Dunkeln überall zurechtzufinden.
Der große zweigeschossige Schuppen, in dem das Kraftwerk eingerichtet wurde, lag direkt rechts in geringer Entfernung vor ihm dicht am Gestade. Er strebte in diese Richtung.
Noch war der Morgen nicht heraufgezogen. Das Firmament war noch tiefschwarz. In manchen Nächten funkelte Sunrise, der Bruderplanet von Hydros, wie ein großes blaugrünes Auge im Himmel, doch in dieser Nacht stand Sunrise auf der anderen Seite des Planeten und verstrahlte sein helles Licht über die unerforschten Gewässer der anderen Hemisphäre. Allerdings, einer der drei Monde war sichtbar, als winziger scharfer weißer Lichtpunkt dicht über dem östlichen Horizont. Und natürlich schimmerten überall die Sterne, eine Kaskadenflut von glitzerndem Silberstaub, eine allumfassende Puderschicht von Helligkeit. Diese Myriaden Haufen ferner Sonnen bildeten einen sinnverwirrenden Hintergrund für die eine und einzige gewaltige Konstellation in der Nähe, das hellstrahlende Hydros-Kreuz — zwei flammende Sternketten, die einander rechtwinklig kreuzten, ein doppelter Lichtgürtel, einmal von Pol zu Pol, und der andere rund um den Äquator.
Lawler sah in diesem Hydros-Kreuz seine heimatlichen Gestirne, denn es waren die einzigen Sterne, die er jemals zu Gesicht bekommen hatte. Er war ein echter Hydraner… in der Fünften Generation. Nie war er auf einem anderen Planeten gewesen und würde auch niemals einen besuchen. Und die Insel Sorve war ihm so vertraut wie seine eigene Körperhaut. Und trotzdem stolperte er zuweilen ohne Vorwarnung in bestürzende Zustände der Verwirrung, während derer sich das Gefühl der Vertrautheit vollkommen auflöste und verschwand und er sich hier wie ein Fremdling vorkam: Tage, an denen er glaubte, er sei gerade erst auf Hydros angekommen, als wäre er vom Himmel gestürzt wie eine Sternschnuppe, ein Ausgestoßener aus seiner wahren, weit entfernten Heimat. Manchmal sah er im Geiste seine verlorene Mutterwelt leuchten, die ERDE, hell wie ein Stern, und auf ihr die riesigen Landmassen inmitten der großen blauen Meere golden-grün, die ›Kontinente‹ genannt wurden… und dann dachte er: Dort bin ich zuhaus, dort ist meine wahre Heimat. Lawler fragte sich oft, ob auch manche von den anderen Menschen auf Hydros jemals hin und wieder von ähnlichen Gefühlen befallen wurden. Wahrscheinlich schon, aber niemand redete jemals darüber. Sie waren ja schließlich allesamt hier ›Fremde‹, und diese Welt gehörte den Gillies. Er und alle Seinesgleichen waren hier nichts weiter als uneingeladene Gäste…
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