„Ich höre weiter“, sagte ich.
„Meine Befürchtungen haben sich bestätigt, allerdings mit umgekehrtem Vorzeichen. Ich hatte angenommen, auf dem Mond werde aus dem entstandenen Wirrwarr etwas entstehen, ahnte aber nicht, daß es etwas sein könnte, das sich unseres Boten bedient.“
„Geht es nicht deutlicher?“
„Ich müßte unnötigerweise in den Jargon der Techniker verfallen. Ich sage das, was ich für die Wahrheit halte, in möglichst einfachen Worten. Es ist zu einer immunologischen Reaktion gekommen, natürlich nicht auf der gesamten Mondoberfläche, aber zumindest an einer Stelle. Von dort aus hat die Expansion der Nekrozyten eingesetzt. Diesen provisorischen Namen habe ich für den Staub erfunden.“
„Woher stammen diese Nekrozyten, und was machen sie?“
„Sie stammen aus den Trümmern der Bits und Logosbauteile. Einige von ihnen können Sonnenenergie aufnehmen. Das ist auch gar nicht verwunderlich, denn es hat dort sehr viele Systeme mit Fotoelementen gegeben. Ich schätze ihre Menge auf viele Milliarden. Der Witz liegt darin, daß der Mond sozusagen eine allmähliche Immunität gegen jedwede Invasion gewonnen hat. Nur bitte ich, nicht zu meinen, dort sei Intelligenz entstanden. Bekanntlich sind wir mit der Gravitation und dem Atom fertig geworden, nicht aber mit dem Schnupfen oder der Grippe. Auf der Erde sind Biozönosen entstanden, und so könnte man sagen, daß es auf dem Mond zu einer Nekrozönose gekommen ist — von diesem ganzen Durcheinander her, aus diesen gegenseitigen Angriffen und Wühlarbeiten. Mit einem Wort, das System von Schild und Schwert hat, ohne Willen und Wissen seiner Programmierer, im Sterben als Nebenprodukt die Nekrozyten hervorgebracht.“
„Was machen die denn nun eigentlich?“
„Erstens werden sie, wie ich meine, die Rolle der ältesten irdischen Bakterien erfüllt, sich also einfach nur vermehrt haben. Sicher hat es viele Arten gegeben, und die meisten sind, wie es die Evolution mit sich bringt, ausgestorben. Nach einiger Zeit sind symbiotische Gattungen aufgetreten, solche also, die zusammenarbeiten, weil es allen Seiten nützt. Aber ich sage noch einmal: keinerlei Intelligenz, nichts dergleichen. Sie sind — wie etwa die Grippeviren — lediglich zu einer großen Modifikationsvielfalt imstande. Im Unterschied zu den irdischen Bakterien sind sie keine Parasiten, weil sie gar keine Wirte haben konnten, sieht man von den Rechnerruinen ab, aus denen sie schlüpften. Diese waren ja nur der anfängliche Nährboden. Die Sache komplizierte sich dadurch, daß es inzwischen zu einer Zweiteilung sämtlicher Waffen gekommen war, die dort entstanden, solange die Programme noch einigermaßen nach ihren Vorgaben arbeiten konnten.“
„Ich errate etwas. Eine Trennung in Waffen, die gegen das Leben, und solche, die gegen unbelebte Gegner gerichtet sind.“
„Die Maus ist schlau. So muß es gewesen sein. Allerdings dürfte von den ersten Nekrozyten, die sicherlich vor vielen Jahren entstanden sind, nichts mehr übrig sein. Aus den Nekrozyten entstanden die Selenozyten. Anders ausgedrückt, sie begannen sich zu vereinigen, um zu überleben und Vielseitigkeit zu gewinnen, etwa wie gewöhnliche Krankheitserreger, die unter der Wirkung von Antibiotika ihre Virulenz dadurch verstärken, daß sie gegen Antibiotika immun werden.“
„Was hat auf dem Mond die Rolle der Antibiotika gespielt?“
„Darüber könnte man lange reden. Vor allem waren für die Selenozyten natürlich alle Produkte der militärischen Autoevolution gefährlich, die die Aufgabe hatten, jegliche ›Kraft des Feindes‹ zu vernichten.“
„Ich verstehe nicht recht.“
„Na was denn, in der Agonie liegt das Mondprojekt erst heute , aber jahrelang zuvor gab es dort eine Spezialisierung und Progression der Waffen, die erst simuliert und dann produziert wurden. Einige von ihnen gingen auf die Selenozyten los.“
„Aha, sie betrachteten sie als Feind, den es zu vernichten galt.“
„Jawohl. Es war ein vorzügliches Doping, das Pendant der Geschütze, mit denen die Pharmaindustrie auf die Bakterien feuert. Das führte die Akzeleration der Entwicklung herbei. Die Selenozyten behielten die Oberhand, weil sie sich als funktionstüchtiger erwiesen. Der Mensch kann einen Schnupfen, der Schnupfen aber nie einen Menschen haben. Das ist ganz klar, nicht wahr? Die großen komplizierten Systeme spielten dort die Rolle des Menschen.“
„Und dann?“
„Dann gab es eine sehr interessante und gänzlich unerwartete Wende. Die Immunität wurde von einer passiven zu einer aktiven.“
„Das verstehe ich nicht.“
„Es war der Übergang von der Verteidigung zum Angriff. Die Selenozyten beschleunigten — dazu noch gewaltsam — den Ruin des Rüstungswettlaufs auf dem Mond.“
„Dieser Staub?“
„Jawohl, dieser Staub. Und als die Reste des großartigen Genfer Entwurfs schon in den letzten Zügen lagen, erhielten die Selenozyten unerwartet Verstärkung.“
„Nämlich?“
„Durch den Dispersanten. Sie bemächtigten sich seiner. Sie zerstörten ihn nicht, sondern schluckten ihn, trieben mit ihm einen logisch-elektronischen Informationsaustausch. Es kam zur Bastardisierung, zu einer Kreuzung.“
„Wie konnte das passieren?“
„Das ist gar nicht so unwahrscheinlich, denn auch ich bin von Silikonpolymeren mit Halbleitermerkmalen ausgegangen, anderen natürlich, aber die Adaptivität meiner Teilchen und der des Mondes war in etwa gleich. Verwandtschaft, fern, aber immerhin. Letztlich erzielt man, wenn man vom gleichen Baustoff ausgeht, stets Resultate, die einander gleichen.“
„Und nun?“
„Da bin ich noch nicht restlos dahintergekommen. Der Schlüssel könnte deine Landung sein. Warum bist du im Mare Ignii gelandet?“
„Im japanischen Sektor? Weiß ich nicht. Ich erinnere mich nicht.“
„Überhaupt nicht?“
„Eigentlich nicht.“
„Und deine rechte Hälfte?“
„Auch nicht. Ich kann mich schon ganz gut mit ihr verständigen. Aber behalten Sie das bitte für sich.“
„Ich behalte es für mich. Sicherheitshalber unterlasse ich die Frage, wie du das machst. Was weiß sie?“
„Daß ich, als ich an Bord zurückkehrte, die Tasche voll von diesem Staub hatte. Wie er hineingekommen ist, weiß sie aber nicht.“
„Du kannst ihn an Ort und Stelle selber eingesackt haben. Die Frage ist nur, warum.“
„Nach dem zu schließen, was ich soeben erfahren habe, muß ich es selber getan haben. Von allein werden mir diese Selenozyten ja nicht in die Tasche gekrochen sein. Ich kann mich aber an nichts erinnern. Was weiß die Agentur?“
„Der Staub hat Aufregung und Panik ausgelöst, zumal dadurch, daß er deiner Spur gefolgt ist. Weißt du das?“
„Ja, Professor S. hat es mir gesagt. Vor einer Woche war er hier.“
„Damit du dich untersuchen läßt? Hast du abgelehnt?“
„Nicht direkt. Ich spiele auf Zeit. Hier ist jedenfalls noch jemand, der mir abgeraten hat. Ich weiß nicht, in wessen Namen. Er spielt hier einen Patienten.“
„Davon hast du noch mehr um dich.“
„Was heißt das, daß der Staub ›meiner Spur gefolgt‹ ist? Hat er mir nachspioniert?“
„Nicht unbedingt. Man kann der Träger von Krankheitserregern sein, ohne davon zu wissen.“
„Aber die Geschichte mit dem Raumanzug?“
„Ja, das ist eine harte Nuß. Das hat dir jemand eingefüllt, oder du hast es selbst getan. Die Frage ist nur, wozu.“
„Wissen Sie es nicht?“
„Ich bin kein Hellseher. Die Situation ist reichlich verworren. Du bist gelandet, um ETWAS zu holen. Du hast ETWAS gefunden. JEMAND hat dich der Erinnerung zu berauben gesucht, und zwar in beiden Angelegenheiten. Daher die Kallotomie.“
„Also gab es mindestens drei antagonistische Seiten?“
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