Auf den Parkwegen spazierten Patienten, manchen wurde in einiger Entfernung ein leisegängiger Wagen von der Art nachgeführt, wie man sie zum Transport des Golfbestecks benutzt — sicherlich für den Fall, daß der Spaziergänger ermüdete. Ich sprang aus der Schaukel, um nachzusehen, ob Doktor Hous seine Beratung mit Tarantoga beendet hatte. So lernte ich Gramer kennen. Er wurde huckepack von einem betagten Diener getragen, der ganz schweißüberströmt und im Gesicht blau angelaufen war, denn Gramer wog gut zwei Zentner. Mir tat der alte Mann leid, aber ich sagte nichts und trat nur beiseite in der Erkenntnis, daß ich mich in meiner gegenwärtigen Lage lieber nirgends einmischte. Gramer ließ sich jedoch von dem Pfleger rutschen und stellte sich mir vor. Offenbar reizte es ihn, ein neues Gesicht zu sehen. Er brachte mich in Verlegenheit, denn ich hatte vergessen, unter welchem Namen ich in der Sanatoriumskartei auftreten sollte. Obwohl ich mit Tarantoga alles abgesprochen hatte, fiel mir jetzt nur der Vorname ein: Jonathan. Gramer gefiel diese Vertraulichkeit — ein Fremder, und sagt nur seinen Vornamen! — und bat mich, ihn Adelaide zu nennen.
Er wurde sehr gesprächig. Seit die Depression ihn verlassen habe, langweile er sich entsetzlich. Als er noch in ihr steckte, habe er sich vor Qualen nicht langweilen können. Diese Depression sei daher gekommen, daß er nie einschlafen konnte, wenn er, schon im Bett liegend, zuvor nicht noch ein bißchen vor sich hin geträumt habe. Am Anfang träumte er davon, daß die Aktien, die er gekauft hatte, in die Höhe gingen, während die anderen, die er abgestoßen hatte, auf die Schnauze fielen. Dann träumte er davon, eine Million zu haben. Als er sie hatte, träumte er von zwei Millionen, dann von drei. Von fünf an war das kein anregender Traum mehr. Die Phantasie brauchte neue Objekte. Das sei immer schwieriger gewesen, sagte Gramer mit trüber Miene. Von dem, was man habe oder was man ohne weiteres haben könne, lasse sich nicht träumen. Eine Zeitlang hatte er davon geträumt, seine dritte Frau loszuwerden, ohne sie mit einem Cent abfinden zu müssen, aber dann hatte auch das geklappt.
Hous zeigte sich immer noch nicht, und Gramer nahm mich endgültig in die Klammer. Er habe sich vor dem Einschlafen die Leute vorgenommen, mit denen er auf Kriegsfuß stand, aber das sei ein Fehler gewesen. Es habe in ihm solche Orgien des Hasses entfacht, daß ihm der Schlaf vergangen sei, er habe Tabletten nehmen müssen, die Ärzte hatten ihm das wegen seiner vergrößerten Leber verboten, und so blieb ihm keine andere Wahl, als sich des Traumes dadurch zu entledigen, daß er sich dessen Gegenstands entledigte. Er versicherte mir, daß dies oberhalb der Hunderttausenddollargrenze eine Kleinigkeit sei. Nein, nein, keinerlei Auftrag an eine MURDER INCORPORATED, um Gottes willen, das ist Blödsinn, extra erfunden für den Film. Er hatte einen Fachmann angeheuert, der das sehr sachkundig erledigte. Wie? Na ja, jedesmal anders. Killen ist keine Kunst. Die Leiche ist weg, und was kannst du ihr tun? Auch in körperlichen Qualen fand er für sich keine Genugtuung. Feinde, Neider und böswillige Konkurrenten muß man zugrunde richten und ihnen sein Mitgefühl ausdrücken, mehr aber nicht. Das ist so was wie eine strategische Treibjagd, sehr effektvoll und sehr effektiv! Seine intellektuellen Neigungen, die er vor seinen Millionärskollegen verbergen mußte, trieben ihn zur Lektüre, er hatte sogar de Sade gelesen! Das mußte ein armes Schwein gewesen sein. Vom Pfählen, Schinden und Gliederausreißen zu träumen, dabei aber im Knast zu sitzen und nichts zur Verfügung zu haben als Fliegen! Der Habenichts hat es gut, es lockt ihn alles, und alles gefällt ihm. Jede Frau ist ihm, sofern sie schön ist, unerreichbar. Von daher rührt der Boom der Porno-Industrie. Aufblasbare Schmusepüppchen, grell illustrierte Orgienreports, Kopulanzen, Salben und Pasten — lauter Ersatz und reine Ablenkung. Nichts ist so anstrengend wie eine Orgie, mag sie auch noch so perfekt arrangiert sein. Nichts, worüber sich reden oder gar träumen ließe. Ach, eine Sehnsucht zu haben und sie nicht stillen zu können!
Ich muß während dieser Eröffnungen ein betretenes Gesicht aufgesetzt haben, aber Adelaide nickte nur und meinte, nachdem er seine Lust befriedigt habe, sich zu rächen, an wem er wollte, habe er wohl unwissentlich den Ast angesägt, auf dem er selber sitze. Da ihm zum Träumen nichts geblieben sei, habe er weiter an chronischer Schlaflosigkeit gelitten.
Damals hatte er sich einen Spezialisten zur Erfindung neuer Träume, einen Schriftsteller oder Dichter, gemietet. Der hatte ihm zwar einige ansprechende Themen geliefert, aber ein Traum, der solide sein will, verlangt nach Erfüllung, und ist diese erfolgt, so verschwindet er. Es ging also um nahezu unerfüllbare Träume.
Ich warf ein, das könne ja wohl nicht allzu schwer sein. Einen Kontinent verschieben. Den Mond in vier gleiche Teile zersägen. Ein Bein des Präsidenten der Vereinigten Staaten essen, angerichtet in der Sauce, die chinesische Restaurants zu Pekingente reichen (ich kam in Fahrt, denn ich hatte das Gefühl, mit einem Verrückten zu reden). Geschlechtsverkehr mit einem Glühwürmchen treiben, und zwar immer dann, wenn es besonders hell leuchtet. Auf dem Wasser gehen und überhaupt Wunder tun. Ein Heiliger im Herrn werden oder gleich den Platz mit dem Herrgott tauschen. Terroristen bestechen, daß sie endlich diese Minister, Botschafter und sonstigen Kapitalisten in Ruhe lassen und sich die Leute vorknöpfen, die es tatsächlich verdienen. Einschließlich der Letzten Ölung.
Adelaide sah mich mit einer Sympathie an, die bald in Bewunderung überging. „O Jonathan“, seufzte er, „hätte ich dich doch eher kennengelernt! Es ist etwas an dem, was du sagst, aber es stimmt nicht ganz. Man kann zu diesen Kontinenten, Monden und Wundern nämlich kein persönliches Verhältnis haben. Der wahre Träumer ist emotionell beteiligt, ohne das geht es nicht. Auch ein Würmchen hat keinen Reiz, wenigstens nicht für mich. Ein guter Traum schlägt weder in ohnmächtige Wut noch in verstärkte Geilheit um, er hat etwas Irisierendes, weißt du, er ist ein bißchen da und ein bißchen nicht da, und dabei schläfst du ein. Tagsüber, im Wachen, habe ich dafür nie Zeit gehabt. Der Schreiberling, den ich mir gemietet hatte, bezeichnete die Zahl der erreichbaren Träume als umgekehrt proportional zur Zahl der verfügbaren Zahlungsmittel. Wer alles hat, kann von nichts mehr träumen. Mit dem Herrgott den Platz tauschen? Gott behüte! Aber dich würde ich trotzdem sofort engagieren.“
Auf dem ausladenden Blatt eines niedrigen, stachellosen Kaktus saß eine dicke Schnecke. Sie sah eklig aus, und das war es wohl, was Adelaide bewog, sie dem Pfleger zu zeigen. „Iß das“, sagte er und zog zugleich ein Scheckheft und einen Kugelschreiber aus dem Pyjama.
„Für wieviel macht er das?“ fragte ich neugierig. Der Pfleger hatte schweigend die Hand nach der Schnecke ausgestreckt, aber ich hielt ihn zurück.
„Du kriegst tausend Dollar mehr, als Mr. Gramer dir bietet, wenn du das NICHT ißt“, erklärte ich und zog mein Notizbuch aus der Tasche. Es hatte den gleichen grünen Plastikeinband wie Adelaides Scheckheft.
Der Pfleger stand starr. Der Millionär schaute etwas zögernd drein, für mich ein riskanter Augenblick, weil ich nicht wußte, ob er weiterbieten würde. Meine augenblicklichen Guthaben reichten gewiß nicht an den Tarif heran, den Gramer für Schnecken festgesetzt hatte. Ich mußte einen weiteren Trumpf ausspielen.
„Für wieviel wollen SIE das essen, Adelaide?“ fragte ich und öffnete mein Notizbuch, als wollte ich einen Scheck ausschreiben. Das packte ihn. Diener und Schnecke hörten für ihn auf zu existieren.
„Ich gebe dir einen Blankoscheck, wenn du sie ungekaut runterschluckst und mir sagst, wie sie sich in deinem Bauch bewegt!“ sagte er, vor Erregung heiser.
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