Sämtliche bisherigen Waffensysteme waren auf den Menschen zugeschnitten gewesen: auf seine Anatomie, damit er mit ihnen erfolgreich töten, auf seine Physiologie, damit er erfolgreich getötet werden konnte.
Wie es in der Geschichte zu gehen pflegt, begriff niemand, was da heraufzog. Die Entdeckungen, die sich zum DEHUMANIZATION TREND IN NEW WEAPON SYSTEMS vereinigen sollten, waren nämlich in sehr weit voneinander entfernten Zonen der Wissenschaft gemacht worden. Die Intellektronik produzierte Mikrorechner, die so billig waren wie Gras, die Neuroentomologie hingegen hatte endlich das Rätsel der Insekten geknackt, die — wie etwa die Bienen — in einem Gemeinwesen leben, für gemeinsame Ziele arbeiten und sich mit einer eigenen Sprache verständigen, obgleich ihr Nervensystem um das 380 000fache kleiner ist als das Gehirn des Menschen. Für den einfachen Soldaten genügt vollkommen die Findigkeit einer Biene, sofern sie entsprechend transformiert wird. Kampftüchtigkeit und Vernunft sind — zumindest auf dem Schlachtfeld — zwei verschiedene Dinge. Hauptfaktor des Drucks, der die Miniaturisierung der Waffen bewirkte, war die Atombombe.
Die Notwendigkeit der Miniaturisierung ergab sich aus einfachen, wohlbekannten Tatsachen, die allerdings außerhalb der Grenzen der damaligen Militärwissenschaft lagen. Als vor 70 Millionen Jahren ein gewaltiger Meteor auf die Erde gestürzt, mit seinen Trümmern die Atmosphäre verdunkelt und damit das Klima auf Jahrhunderte hinaus abgekühlt hatte, rottete diese Katastrophe mit Stumpf und Stiel die großen Echsen, die Dinosaurier, aus, schadete den Insekten jedoch nur wenig und ließ die Bakterien völlig verschont. Die Beweiskraft der Paläontologie war eindeutig: Je größer die obwaltende Zerstörungskraft ist, um so kleiner müssen die Organismen sein, die ihr entgehen sollen. Die Atombombe machte die Auflösung sowohl des Soldaten als auch der Armeen erforderlich. Der Gedanke, den Soldaten auf Ameisengröße schrumpfen zu lassen, konnte im 20. Jahrhundert jedoch außerhalb der Phantastik keinen Ausdruck finden. Der Mensch kann weder in Teilchen aufgelöst noch in seinen Maßen reduziert werden. Man dachte damals an automatische Soldaten und meinte damit Roboter von Menschengestalt, aber das war schon zu jener Zeit ein naiver Anachronismus. Die Industrie unterlag ja bereits der Entmenschung, aber die Roboter, die die Arbeiter an den Taktstraßen der Automobilwerke ersetzten, hatten keine Menschengestalt — sie bildeten lediglich die Vergrößerung ausgewählter Einzelteile des Menschen: als Gehirn mit einer mächtigen stählernen Hand, als Gehirn mit Augen und einer Faust, als Sinnes- und Greiforgane. Unter einer atomaren Bedrohung ließen sich große Roboter aber nicht einfach auf die Schlachtfelder versetzen.
So entstanden radioaktive Synsekten (synthetische Insekten), Krustentiere aus Keramik, Schlangen und Ringelwürmer aus Titan, die sich in die Erde eingraben und nach einem Atomschlag wieder hervorkriechen konnten. Das fliegende Synsekt war gewissermaßen eine zu einem mikroskopisch kleinen Ganzen verschmolzene Legierung von Flugzeug, Pilot und Bewaffnung. Gleichzeitig wurde zur operativen Einheit die Mikroarmee , die nur als Ganzes eine Kampfkraft darstellte, etwa wie nur der ganze Bienenschwarm eine selbständige, überlebensfähige Einheit bildet, während die einzelne Biene nichts ist. Es entstanden also Mikroarmeen vieler Typen, gestützt auf zwei gegensätzliche Prinzipien. Nach dem Prinzip der Selbständigkeit wirkte eine solche Armee wie ein Kriegszug von Ameisen, eine Welle von Bakterien oder ein Schwarm von Hornissen. Nach dem Prinzip des Teletopismus war die Mikroarmee lediglich ein gewaltiger, fliegender oder kriechender Haufen von Elementen zur Eigenmontage: Je nach der taktischen oder strategischen Notwendigkeit bewegte er sich in starker Auflösung vorwärts, um sich erst am Ziel zu dem vorprogrammierten Ganzen zu vereinigen. Es verhielt sich so, als würde das Kriegsgerät die Rüstungsfabrik nicht in seiner endgültigen Gestalt, sondern in Halb- oder Viertelfertigteilen verlassen, die sich zusammenschließen, kurz bevor sie ins Ziel treffen. Das einfachste Beispiel dieser „selbstkoppelnden Armeen“ war die autodisperse Atomwaffe. Eine ballistische Interkontinentalrakete mit einem Kernsprengkopf läßt sich aufspüren — durch Satellitenüberwachung aus dem All, durch Radar von der Erde aus. Diese Mittel versagen jedoch bei gigantischen Wolken von Mikroteilchen in starker Dispersität, die Uran oder Plutonium tragen und sich zur kritischen Masse erst am Ziel zusammenschließen, sei dieses nun eine Fabrik oder eine feindliche Stadt.
Eine Zeitlang existierten die alten und neuen Waffengattungen nebeneinander her, aber das massive, schwere Kriegsgerät erlag bald endgültig den Angriffen der Mikrowaffen. Diese waren ja beinahe unsichtbar. Wie Krankheitserreger verstohlen in den Tierorganismus eindringen, um ihn von innen her zu töten, so durchsetzten die toten, künstlichen Mikroben nach den ihnen vorgegebenen Tropismen die Geschützläufe, Geschoßräume, Panzermotoren und Flugzeugtriebwerke, zerfraßen das Metall oder jagten, wenn sie an die Pulverladungen gelangten, alles in die Luft. Was vermochte selbst der tapferste, mit Granaten behängte Soldat gegen diesen mikroskopisch kleinen, toten Gegner? Nicht mehr als ein Arzt, der Choleraerreger mit einem Hammer zu bekämpfen sucht! Gegen die Wolken der das vorgegebene Ziel selbst aufsuchenden, biotropen, alles Leben zerstörenden Mikrowaffe war der Bürger in Uniform so hilflos, wie es der römische Legionär mit Schild und Schwert im Kugelhagel gewesen wäre.
Schon im 20. Jahrhundert hatte die Taktik des Kampfes in geschlossener Ordnung einer Lockerung der Formationen weichen müssen, und im Bewegungskrieg kam es zu einer weiteren Auflösung. Damals hatte es allerdings immer noch Frontlinien gegeben, die nun ebenfalls verschwanden. Die Mikroarmeen sickerten mit Leichtigkeit durch die Verteidigungsgürtel und drangen tief ins feindliche Hinterland. Kernwaffen großen Kalibers erwiesen sich mittlerweile immer offenkundiger als machtlos : Ihr Einsatz war einfach unrentabel. Die Bekämpfung einer Virusepidemie mit thermonuklearen Bomben konnte nur minimalste Effekte bringen. Überdies sollen die Kosten eines Geschosses den Wert des von ihm zerstörten Ziels nicht wesentlich übersteigen. Man jagt nicht mit Kreuzern auf Blutegel.
Als schwierigstes Problem der menschenlosen Etappe des Kampfes des Menschen mit sich selbst erwies sich die Unterscheidung von Freund und Feind. Diese Aufgabe, seit langem mit der Formel FOF (FRIEND or FOE) bezeichnet, war einst von elektronischen Systemen bewältigt worden, die nach der Regel von Anruf und Parole arbeiteten. Ein Flugzeug oder ein anderer Flugkörper gab, über Funkwellen gefragt, über einen Sender selbsttätig die richtige Antwort oder wurde als Feind behandelt und angegriffen. Diese aus dem 20. Jahrhundert stammende Methode war anachronistisch geworden. Die neuen Waffenmeister hatten im Reiche des Lebens Anleihen aufgenommen: bei Pflanzen, Tieren und Bakterien.
Die Diagnostizierung kopierte die Methoden der lebenden Arten: ihre Immunologie, den Kampf von Antigen und Antikörpern, Tropismen, aber auch Mimikry, Tarnfarben, Deckung und Maskierung. Die toten Mikrowaffen täuschten oftmals harmlose Mikroorganismen oder sogar Kapseln und Blütenstaub von Pflanzen vor und verbargen unter diesen Hüllen ihren todbringenden, erosierenden Inhalt. An Bedeutung gewann auch die informatorische Auseinandersetzung — nicht im Sinne der Propaganda, sondern des Eingreifens in das feindliche Nachrichtenwesen, um es zu lähmen oder — beim Anflug der nuklearen Heuschreckenschwärme — den vorzeitigen Zusammenschluß zur kritischen Masse zu veranlassen und damit das Vordringen zu dem zu schützenden Ziel zu verhindern. Der Verfasser des Buches beschrieb einen Kakerlaken, der der Prototyp bestimmter Mikrosoldaten war und auf dem Abdomen einige dünne Härchen trug. Wurden diese durch eine Luftbewegung gekrümmt, ergriff der Kakerlak die Flucht. Solche Sensoren sind mit dem hinteren Nervenknoten kurzgeschlossen, der einen harmlosen Windhauch von Bewegungen unterscheidet, die von einem Angreifer verursacht werden.
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