Durch die Montagehallen der Gynandroics führte mich Paridon Sawekahu, der leitende Ingenieur. Nach der Gewohnheit seiner Nation sprach er mich mit Vornamen an, und ich mußte bei meinen Antworten auf der Hut sein, um Paridon nicht dauernd mit Pyramidon zu verwechseln. Tottentanz und Blahouse begleiteten uns. Ingenieur Sawekahu klagte über den Hagel immer neuer juristischer Beschränkungen, die die Forschungsarbeit und die Entwicklung neuer Prototypen erschwerten. Die Banken zum Beispiel hatten an ihren Eingängen generell Sensoren eingebaut, die Sendlinge ausspürten. Das wäre halb so schlimm gewesen, es war sogar verständlich, denn man fürchtete ferngesteuerte Überfälle. Zahlreiche Banken benutzten jedoch statt reiner Alarmanlagen thermoinduktive Sicherungen, die den Sendling, kaum daß sie ihn an der Elektronik in seinem Innern erkannt hatten, einem unsichtbaren Schlag von Wellen hoher Frequenz aussetzten. Der dadurch verursachte Temperatursprung brachte seine Leitungen zum Schmelzen und machte ihn zu Schrott. Die Käufer nun richteten ihre Beschwerden nicht an die Banken, sondern an die Gynandroics. Außerdem kam es gar schon zu Gewalttaten, sogar zu Bombenanschlägen gegen Transporte weiblicher Sendlinge, zumal wenn diese schön waren. Ingenieur Paridon gab zu verstehen, daß seine Firma die Bewegung der „Women’s Liberation“ dieser Terrorakte verdächtigte, aber vorläufig lagen keine Beweise vor, die ein gerichtliches Vorgehen ermöglicht hätten.
Man führte mir den gesamten Produktionsprozeß vor, vom Schweißen der ultraleichten Skelette aus Duraluminium bis hin zur Verkleidung dieses „Chassis“ mit einer körperformenden Masse. Die Mehrzahl der weiblichen Sendlinge wird in acht Größen produziert, im Firmenjargon „Kaliber“ genannt. Einzelanfertigungen kosten mehr als das Zwanzigfache. Ein Sendling braucht übrigens durchaus nicht dem Menschen ähnlich zu sein, aber je mehr er sich von dessen Körperbau unterscheidet, um so größer werden die Schwierigkeiten bei der Steuerung. Für Sendlinge, die in großer Höhe, etwa beim Bau von Hängebrücken oder Hochspannungsleitungen, arbeiten, wäre ein Schwanz ein höchst praktikables Sicherungsgerät, aber der Mensch besitzt nicht die Voraussetzungen, um einen Greifschwanz zu handhaben.
Mit einem Elektromobil (das Firmengelände ist riesengroß) fuhren wir dann ins Lager, wo ich die Planeten- und Mondsendlinge besichtigte. Je größer die Gravitation, um so schwerer die Aufgabe der Konstrukteure, denn ein zu kleines Gerät kann nicht viel ausrichten, und ein großes, das starke Antriebsmotoren braucht, wiegt zuviel.
Wir kehrten in die Halle für die Endmontage zurück.
Während Doktor Wahatan vom UN-Büro mit seinem höflich-reservierten Lächeln eine Musterstudie asiatischen Diplomatentums bot, gab Ingenieur Paridon eine Vorstellung asiatischen Überschwangs. Sein Mund mit den blauen Lippen stand keinen Augenblick still, lachend entblößte er ein prachtvolles Gebiß:
„Sie werden es nicht glauben, Yon, aber wissen Sie, worüber das Team der General Pedypulatrius mit seinen Robotern gestolpert ist? Über den Gang auf zwei Beinen! Sie sind auf die Nase gefallen, weil ihr Prototyp immer wieder auf die Nase gefallen ist. Nicht übel, was? Hahaha! Gyroskope, Gegengewichte, Sensoren mit double feedback in den Waden — alles für die Katz! Wir hingegen haben keinerlei Probleme, denn beim Sendling hält der Mensch das Gleichgewicht!“
Ich sah zu, wie die weiblichen Produkte vom Band liefen und, von Greifern aufgenommen, über unsere Köpfe hinweg zur Packerei transportiert wurden: ein gleichmäßiger Reigen nackter Mädchenkörper, die Haut blaßrosa wie bei Säuglingen, ein hilfloses Schweben, lang herabwallendes, wogendes Haar. Ich fragte Paridon, ob er verheiratet sei.
„Hahaha! Yon, Sie sind ein Witzbold! Natürlich bin ich verheiratet, und Kinder habe ich auch. Der Schuster geht nicht in den Schuhen, die er selber macht! Unseren Angestellten bieten wir pro Jahr ein Stück als Prämie. Das ist für sie ein ausgezeichnetes Geschäft.“
„Welchen Angestellten?“ fragte ich. Die Halle war menschenleer. An den Fließbändern arbeiteten gelb, grün und blau lackierte Roboter, deren vielgliedrige Ausleger kantigen Raupen glichen.
„Hahaha! In den Büros haben wir noch paar Leute, in der Sortiererei, in der technischen Kontrolle und in der Packerei ebenfalls. Oh, sehen Sie mal, ein Stück Ausschuß! Mit den Beinen stimmt was nicht, sie sind krumm! Sagen Sie, Yon, liegt Ihnen an einem Exemplar? Kostenlos, für eine Woche, wir liefern es frei Haus …“
„Nein, danke. Vorläufig nicht. Pygmalionismus ist nicht nach meinem Geschmack.“
„Pygmalionismus? Ach so, Bernard Shaw, ich verstehe! Selbstverständlich, ich verstehe Ihre Anspielung. Manche Leute sträuben sich innerlich dagegen. Sie müssen aber zugeben, daß die Herstellung von Damequins besser ist als die von Karabinern. Wir produzieren für den Frieden. Make love, not war! Stimmt’s?“
„Man kann gewisse Vorbehalte haben“, bemerkte ich vage. „Ich habe vor dem Werktor Mahnwachen gesehen.“
„Ja, gewiß, es gibt Probleme. Eine normale Frau kann sich mit einem Sendling ihres Geschlechts nicht vergleichen. Die Schönheit ist im Leben eine Ausnahme von der Regel, hei uns ist sie technische Norm! Das Gesetz des Marktes. Das Angebot, bestimmt von der Nachfrage. Was soll man machen — so ist nun mal die Welt …“
Wir besichtigten noch die Schneiderei, die voll war von raschelnden Kleidern und rauschenden Dessous, geschäftigen Mädchen mit Scheren und mit Bandmaßen um den Hals, reichlich unscheinbaren, weil lebendigen Mädchen. Ingenieur Paridon begleitete uns zum Parkplatz, bis ans Auto, und wir verabschiedeten uns. Tottentanz und Blahouse hüllten sich auf der Rückfahrt in ein sonderbares Schweigen, und auch ich hatte keine Lust zum Reden. Noch aber war der Tag nicht vorüber.
Zu Hause fand ich im Briefkasten ein dickes Kuvert, darin ein Buch mit dem langen Titel DEHUMANIZATION TREND IN WEAPON SYSTEMS OF THE TWENTY FIRST CENTURY or UPSIDE DOWN EVOLUTION.
Der Verfasser hieß Meslant, der Name sagte mir nichts. Der Band war großformatig, schwer und solide, voller Diagramme und Tabellen. Da ich nichts Besseres vorhatte, setzte ich mich in einen Sessel und begann zu lesen. Auf der ersten Seite, vor dem Vorwort, stand ein Motto in deutscher Sprache:
„Aus Angst und Noth
Das Heer ward todt.“
Eugen von Wahnzenstein
Der Autor präsentierte sich als Experte für die neueste Geschichte des Militärwesens. Nach seinen Worten läßt sich dieser Geschichtsabschnitt durch zwei aphoristische Schlagwörter des ausgehenden 20. Jahrhunderts markieren: der Anfang durch FIF („FIRE AND FORGET“), das Ende durch LOD („LET OTHERS DO it“). Der Vater des modernen Pazifismus war der Wohlstand, seine Mutter die Angst. Beider Paarung erzeugte den Trend einer Entmenschung des Krieges. Immer weniger Menschen wollten Waffen tragen, und dieser Schwund an kriegerischem Geist verhielt sich direkt proportional zum Lebensstandard. Die edle Maxime „Dulce et decorum est pro patria mori“ galt den Jugendlichen der reichen Länder gerade so viel wie der Werbespot eines Beerdigungsunternehmens. Gerade in jener Zeit setzte ein Kostenrückgang in der elektronischen Industrie ein. Die bisher als Rechenelemente verwendeten CHIPS wurden durch Produkte der genetischen Ingenieurskunst ersetzt, die man CORN nannte. Man hatte diesen Getreidenamen für sie gewählt, weil sie aus der Zucht künstlicher Mikroben stammten, hauptsächlich der des nach dem Schöpfer der Kybernetik benannten SILICOBACTERIUM LOGICUM WIENERI. Eine Handvoll dieser Elemente kostete nicht mehr als eine Handvoll Hirse. Die künstliche Intelligenz wurde also billiger, während die neuen Waffengenerationen sich in geometrischer Progression verteuerten. Im Ersten Weltkrieg hatte ein Flugzeug soviel wie ein Auto, im Zweiten soviel wie zwanzig Autos gekostet — gegen Ende des Jahrhunderts kostete es bereits das 600fache. Man hatte ausgerechnet, daß selbst eine Supermacht sich in 70 Jahren nur noch 18 bis 22 Flugzeuge würde leisten können. Diesem Schnittpunkt zweier Kurven — der des Kostenrückgangs bei der Intelligenz und der der Kostensteigerung bei den Waffen — entsprang der Trend einer Entmenschung der Streitkräfte. Die Armeen wandelten sich aus einer lebendigen in eine tote Kraft. Die Welt machte damals zwei schwere Krisen durch: die erste, als das Erdöl sich jäh verteuerte, die zweite, als es kurz darauf ebenso plötzlich wieder billiger wurde. Die klassischen Gesetze der Ökonomie des Marktes verloren ihre Wirkung, aber man war sich über die Aussage dieses Phänomens ebensowenig im klaren wie darüber, daß die Figur des uniformierten, heimbewehrten Soldaten, der zum Bajonettangriff übergeht, in der Vergangenheit versank, um ihren Platz im Museum neben den in Stahl geschmiedeten Rittern des Mittelalters zu finden. Infolge des geistigen Beharrungsvermögens der Techniker wurden noch eine Zeitlang großdimensionale Waffen gebaut: Panzer, Geschütze, Transportfahrzeuge und anderes Schlachtgerät, das für Menschen bestimmt war und selbst dann noch so groß gebaut wurde, als es bereits selbsttätig und ohne Menschen eingesetzt werden konnte. Diese Phase der Panzergigantomanie erfuhr jedoch bald einen Knick und schlug um in eine Phase der beschleunigten Miniaturisierung.
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