Wer nichts von der Katastrophe wußte, die das Schiff betroffen hatte, der mußte annehmen, die Besatzung liege hinter den Kabinentüren in tiefem Schlaf, das Licht sei in den Gängen ausgelöscht und alles sei in bester Ordnung. Die wenigen Einrichtungsgegenstände wie Tischchen, Bilder und Skulpturen, die hier und da zur Ausschmückung des Ganges aufgestellt beziehungsweise angebracht waren, waren noch alle auf ihren Plätzen.
Lediglich einige Sessel und verschiedene Pflanzenbehälter schwebten bewegungslos im Gang. Paro Bacos mußte sie entweder sanft zur Seite schieben oder sich an ihnen vorbeischlängeln. Ein Sessel zum Beispiel verharrte, mit den Füßen zur Decke weisend, unbeweglich in Augenhöhe. Bacos berührte den Stoffüberzug des Polsters. Er zerfiel augenblicklich zu Staub. Auch die Pflanzen, die einmal mit ihrem Grün, mit Blüten und den verschiedenen Blattformen den Gang geziert hatten, waren längst unter dem Einfluß der Kälte zerfallen.
Der Weltraumfahrer drang weiter vor. Als er sich um eine Ecke schob, stieß er unerwartet mit dem Helm gegen einen Gegenstand. Es war eine dort aufgestellte Bleiskulptur. Sie gab einen silberhellen Ton wie eine Glocke von sich. Das Blei, bei normalen Temperaturen weich und von dumpfem Klang, hatte unter dem Einfluß der Weltraumkälte Supraeigenschaften angenommen. Es war elastisch wie Stahl geworden. Beim Anschlagen gab daher das Blei diesen silberhellen Klang von sich. Gewöhnlicher Stahl hingegen wurde nahe dem absoluten Nullpunkt spröde wie Glas.
Bacos ging weiter. Endlich gelangte er an das Ende des Ganges. Die dicke graue Schutzwand, die das letzte Fünftel des Rumpfes, den Heckteil mit den Triebwerken und den atomaren Energieerzeugern zum Schütze der Besatzung vom übrigen Schiff abtrennte, war erreicht. Der Gang zweigte hier im rechten Winkel nach links und rechts ab, an der Schutzwand entlangführend. Der Raumfahrer wandte sich nach links.
Zehn Meter von der Gabelung des Ganges entfernt mußte der Kabelschacht sein. In ihm verliefen alle Leitungen, die durch die Schutzwand zum Heckteil des Schiffes hinein- oder davon herausführten. Zuvor aber waren die Leitungen, Drähte und Kabel über einen Schaltschrank geleitet worden.
Paro Bacos schob sich an diesen Schaltschrank heran. Er öffnete ihn. Jetzt mußten sämtliche Stromwege unterbrochen, alle Brücken und Kontakte vorsichtig voneinander gelöst werden. Das mußte geschickt getan werden, damit bei Leitungen, in denen eventuell noch elektrische Ströme kreisten, kein Abrißfunke entstand. Kontakt um Kontakt wurde getrennt, Verbindung um Verbindung gelöst.
Zuletzt begann der Atomphysiker die dicken armstarken Kabel zu entfernen, die aus der Schutzwand herausführten und die der Energieversorgung des gesamten Raumschiffes gedient hatten. Er atmete tief auf. Sein Auftrag war erfüllt.
Plötzlich rieselte ihm ein unangenehmes Gefühl den Rücken herunter. An seiner Umgebung hatte sich etwas verändert. Er wußte in den ersten Sekunden nur noch nicht, was das war. Bacos rührte sich nicht. Nur den Kopf drehte er langsam zur Seite. Er erblickte dort, wo bei Schwerkraft oben, wo die Decke sein würde, eine lange Kette strichförmiger Lichtquellen. Sie verteilten sich im Abstand von etwa drei Metern über die ganze Länge des Ganges.
Der Schreck in Bacos ließ nach. Fast hätte er sich ausgelacht. Damit hätte er rechnen müssen. Die Notstromversorgung hatte sich selbsttätig eingeschaltet, als das letzte Energiekabel getrennt wurde. Sie wurde aus Batterien und aus chemischen Energieerzeugungsanlagen, die über das ganze Schiff verteilt waren, gespeist. Wäre der Gang noch mit Luft gefüllt gewesen, hätte sich das Notlicht zerstreuen und verbreiten können. Bacos wäre plötzlich von hellem Licht umflutet gewesen. So aber waren nur die Leuchtkörper selbst zu erkennen.
Paro Bacos gewahrte jetzt auch, daß die Warnlampe in seinem Helm, die Radioaktivität anzeigt, schwach glomm und das Innere des Helms mit einem roten Schimmer erfüllte. Er hatte es bisher nicht bemerkt, weil seine ganze Aufmerksamkeit dem Lösen der Kabelverbindungen gegolten hatte. Woher kommt die starke Radioaktivität? fragte sich Bacos. Ist ein Riß in der Schutzwand? Der Weltraumfahrer ließ den gebündelten Strahl der Handlampe suchend über die Wand gleiten.
Wenige Schritte neben dem Schaltschrank fiel der Strahl in eine dunkle, runde Öffnung. Es war der Not- und Havarieeinstiegsschacht zum Reaktor.
Der dicke Panzerdeckel stand weit offen. Ein Mensch mußte hinter dieser Schutzwand sein. Wahrscheinlich hatte dieser Mensch sein Leben gewagt, um alle anderen zu retten. Doch der Meteorit schien schneller gewesen“ zu sein. Er hatte das Raumschiff erreicht, bevor der Schaden behoben werden konnte. Also hat ein Reaktorschaden das Forschungsschiff manövrierunfähig gemacht, schlußfolgerte Bacos.
Er ging auf die Öffnung zu. Von Schritt zu Schritt verstärkte sich der Schein der roten Warnlampe im Helm. Bacos leuchtete in den engen Tunnel hinein. Er war leer. Die Warnlampe leuchtete jetzt grellrot. Der Raumfahrer zog sich rasch zurück. Die Strahlung war so stark, daß der Raumanzug keinen genügenden Schutz mehr bot.
Paro Bacos ließ den Gefahreneinstieg zum Reaktor offen. Es sollte alles so bleiben, wie er es vorgefunden hatte. Sicher würden im Schiff noch mehr Beispiele dafür zu finden sein, wie tapfer die Besatzung dieser Rakete gegen den Untergang gekämpft hatte.
Paro Bacos ging wie ein Schlafwandler umher. Er begann das Raketenwrack zu durchforschen und nach den letzten Spuren des Lebens zu suchen, das hier einstmals geherrscht hatte.
In fast allen Gängen brannte geisterhaft das Notlicht. Bacos kam in den Wohnteil des Raumschiffes. Die meisten Kabinentüren waren fest verschlossen. In den Räumen hinter diesen Türen mochte zwar noch hermetisch eingeschlossene Luft vorhanden sein, aber leben konnte dort niemand mehr. Der Sauerstoff und die Lebensmittel wären längst verbraucht, gewesen. Niemand hätte dort Jahre oder gar Jahrzehnte überstehen können.
Nur zwei oder drei Kabinentüren standen offen. Ihre Bewohner waren wohl, von der Katastrophe überrascht, auf ihre Station geeilt, ohne sich die Zeit zum Schließen der Kabinentüren zu nehmen. Paro Bacos wagte kaum einen Blick in diese offenen Kabinen zu werfen, geschweige denn sie zu betreten. Nicht weil er Angst hatte, einem Toten zu begegnen, sondern weil er fürchtete, jene Kleinigkeit wahrzunehmen, die über die letzten Stunden und Minuten längst vergangener Menschen berichteten.
Ein aufgeschlagenes Buch, eine halbfertige Plastik, ein offenstehender Schrank oder ein Paar stehengebliebene Schuhe hätten Paro Bacos zu schwer erschüttert, hätten ihm den Untergang der Besatzung dieses Schiffes schrecklich erscheinen lassen.
Er entschloß sich, den Wohnteil des Totenschiffes zu verlassen und zu den Laboratorien und technischen Sektionen der Rakete vorzudringen. Er schaltete die Magneteisen an seinen Schuhen ein. Sie erleichterten das Gehen. Er hätte das schon längst tun sollen. Das Schweben durch die Gänge war anstrengender, als er geglaubt hatte.
Der Raumfahrer stapfte nun durch das Schiff, über Treppen und Gänge, seine schweren, mit Eisenplatten beschlagenen Schuhe hart aufsetzend. Diese Schritte hätten durch das ganze Schiff hallen und dröhnen müssen. Es war jedoch kein Laut zu hören. Diese akustisch tote Welt, der die Luft zur Ausbreitung der Schallwellen fehlte, machte durch ihre Lautlosigkeit die Situation noch unheimlicher.
Der Suchende betrat die Sektion der Laboratorien. Abermals ein langer Gong, diesmal aber schnurgerade und nüchtern, mit gleichmäßig rechts und links verteilten Türen. Der Lichtkegel der Handlampe glitt über die Aufschriften. Bacos las: „Laboratorium der Astrobiologen“, „Laboratorium für Korpuskularstrahlung“, „Kältelaboratorium für Supraforschung“, „Laboratorium für Vakutronik“ und so weiter.
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