Sil sagte: „Unsere unsichtbaren Diener haben für uns bei den Sandwanderern das Sprechen gelernt. Wir können nun mit dir reden und auch alles verstehen, was du uns sagst.“
Ia-du-lin überwand seine Überraschung schnell und bat Sil, ihn in die Stadt zu bringen, die dort drüben von einem Flammenkranz umgeben sei. Dabei wies er mit ausgestrecktem Arm durch die Dunkelheit zur Lichterkette. Die Stadt sei seine Heimat und heiße E-rech. Er habe eine Botschaft, auf eine Tontafel geschrieben, bei sich, die er dem Herrscher der Stadt bringen müsse. Aber fremde, gewalttätige Krieger bewachten E-rech und ließen niemand hinein und heraus. Es sei die Absicht der Soldaten, bald in die Stadt einzudringen.
Gefangene zu machen und sie als Sklaven abzuführen.
Sil verstand den Myonendolmetscher, der Ia-du-lins Sprache in den Helmhörer übertrug, nicht vollständig. Worte wie „Sklaven, Gefangene, Soldaten und abführen“ waren ihm fremd. Er würde ihren Sinn erst noch durch eine Rückfrage bei der „Kua“ klären müssen. Soviel stand jedoch fest, daß Ia-du- lin in die Stadt wollte, aber von anderen Menschen daran gehindert wurde.
„Wir erfüllen dir gern diesen Wunsch“, sagte Sil. „Steig ein!“ Er hob die Sonde in den Ringflügler und schob auch das Reisebündel des Menschenfreundes hinein. Zaghaft kletterte Ia-du-lin über eine schmale Leiter durch die Luke. Sil führte ihn zu einem Sitz, der wie eine Schale aussah, und drückte ihn sanft hinein.
Nur kurze Zeit verblieb Ia-du-lin, um die verwirrende Umwelt, die so ganz anders war als das Zimmer im Feuervogel, zu betrachten. Das rötliche Licht erlosch, der Fußboden wurde durchsichtig, und Ia-du-lin sah den Fluß immer kleiner werden. Dabei fühlte er, wie der Boden des Zimmers schwankte. Dann vermochte er unter sich nichts mehr zu erkennen. Nur der Mond lief plötzlich am Himmel hin und her und schaute einmal von der einen und dann wieder von der anderen Seite in das fliegende Zimmer der Himmelssöhne.
Azul, der diesmal den Ring steuerte, hielt, als sie über der Stadt schwebten, nach einem geeigneten Landeplatz Ausschau.
In dem Geschachtel der Wohnzellen lagen nur wenige hofartige Plätze, die kaum Raum zum Landen und Starten boten. Im hellen Mondlicht sah Azul einen größeren Platz im Zentrum. Dort setzte er den Ringflügler auf.
Ia-du-lin sprang aus der Kabine, erstaunt, schon wieder aussteigen zu können. Seine Sandalen berührten klatschend harten Boden. Er trat unter dem noch kreisenden Flügelring hervor, sich unter dem Luftstrom unwillkürlich bückend. Ja, unverkennbar, das war E-rech, das war der heilige Bezirk der Stadt mit seinen in weitem Halbkreis angeordneten fünf Tempeln. Der Mond stand hinter der Ziggurat. Die wuchtigen Konturen des Stufenturmes reckten sich in den Nachthimmel.
Das bleiche Licht des Mondes floß in langen Bahnen über den Platz, ließ hier grell eine hellgetünchte Mauer aufleuchten und versteckte dort im Halbdunkel die Ecken und Winkel.
Auch Sil und Azul waren ausgestiegen. Der weite Platz um sie erschien menschenleer. Allein bei jedem der Gebäude, im Schatten einer Treppe, einer Säule oder einer vorspringenden Ecke versteckt, waren deutlich Wärmeflecken zu erkennen.
„Wer steht vor den großen Häusern?“ fragte Sil über den Myonendolmetscher.
„Es sind Tempelwächter, die die Ruhe der Götter und die Schätze der heiligen Stätten bewachen“, antwortete Ia-du-lin. „Kommt mit mir. Ich führe euch. Nan-nar und Nin-Gal werden euch gastlich aufnehmen.“
Die beiden folgten Ia-du-lin, der auf eines der großen Gebäude zuschritt. Wer mochten Nan-nar und Nin-Gal sein, daß sie so gastfreundlich Kosmonauten aufnahmen?
Ia-du-lin sprang schnell die breiten Stufen zum Hauptportal hinauf und eilte auf den Tempeldiener zu, der das Tor bewachte. „Zwei Götter kommen. Es sind die Söhne der I-na- nua. Öffne uns, rasch!“ flüsterte er ihm zu.
Der Tempelwächter hatte mit Grausen die Vorgänge auf dem Tempelplatz beobachtet. Willenlos tat er, was man von ihm forderte. Dann stürzte er davon, die Oberpriester zu verständigen.
Ia-du-lin tastete sich durch die Dunkelheit der Tempelhallen.
Er hatte Mühe, den Weg zu finden. Wäre er hier nicht oft ein und aus gegangen und fiele nicht ab und zu ein Mondstrahl durch eine Öffnung in der Decke oder in der Mauer, hätte er nur schwer zum Hauptsaal gefunden. Die Himmelssöhne, die kleine dunkelrote Lampen trugen, bewegten sich so sicher, als sei für sie alles hell erleuchtet. Sie durchschritten Gänge und Räume. Im Hauptsaal angelangt, blieben sie vor der Statue des Mondgottes stehen, eines alten, hageren Mannes mit einer Mondsichel in der Hand. Öl-lichte erhellten spärlich die geräumige Halle.
Zwei Tempeldiener sprangen mit einem Ruf des Entsetzens auf, als lautlos zwei unbekannte Gestalten erschienen. Sie preßten sich rückwärts an die Wand. Verwundert bemerkten sie einen Menschen zwischen ihnen, und sie lauschten seiner Stimme.
„Hier bitte ich euch zu warten“, sagte Ia-du-lin zu Sil und zu Azul. „Wir sind im Tempel des Mondgottes Nan-nar. Es ist der größte Tempel in E-rech. Ich werde zu En-mer-kar gehen und ihm von euch berichten. Noch heute nacht komme ich wieder.
Zeigt euch keinem Menschen. Sie würden erschrecken und aus der Stadt in die Speere und Pfeile der Belagerer laufen. Nur die Priester dürfen euch sehen.“
„Ich sehe aber, daß auch die Priester sich vor uns fürchten“, sagte Sil. „Was werden die Menschen erst sagen, wenn sie unseren fliegenden Ring auf dem Platz vor diesem großen Haus stehen sehen?“
„Bis zum Morgengrauen wird sich Rat finden“, sagte Ia-du- lin.
Dann wandte er sich den beiden Priestern zu. „En-mer-kar wird kommen und die Söhne der I-na-nua befragen. Verhaltet euch ehrfurchtsvoll“, forderte er sie auf.
Als Ia-du-lin aus dem Portal des Tempels hinaus auf die Stufen trat, sah er, daß sich überall in weitem Rund Gruppen von Priestern versammelt hatten, ängstlich bemüht, im Schatten der Bauten zu bleiben. Sie starrten zum fliegenden Ring hinüber, dessen Flügelstummel sich immer noch langsam drehten.
Ia-du-lin erinnerte sich des wundersamen Steins, der im fliegenden Haus der Himmelssöhne geblieben war. Für das, was er noch heute nacht alles zu tun gedachte, brauchte er ihn.
Er hastete quer über den Platz auf den fliegenden Ring zu.
Kaum war ihm Ia-du-lin auf einen Steinwurf nahe gekommen, als das Gefährt plötzlich aufsummte und sich ein Stück in die Luft erhob. Erstaunt blieb Ia-du-lin stehen. Waren die Himmelssöhne doch aus dem Tempel herausgekommen und hatten noch vor ihm ihr fliegendes Haus bestiegen? Aber hinter den matt erleuchteten durchsichtigen Wänden des fliegenden Hauses regte sich nichts. An seinem Boden zwischen den drei Füßen pendelte die Klappe, die Tür dieses Hauses. Ia-du-lin ging ein Stück zurück und überlegte, was zu tun sei. Da senkte sich der Ringflügler wieder herab und stellte sich auf den Platz, langsam und ruhig den Wind fächelnd. Erfreut ging Ia-du-lin wieder auf ihn zu, und wieder erhob sich das runde Haus, heftig mit seinen Flügeln kreisend. Es stellte sich erst auf den Boden, als Ia-du-lin sich erneut entfernte.
Da kam ihm ein Gedanke. Er zog den gelben Umhang aus dem Brustausschnitt seines Kittels, warf ihn sich über und ging abermals auf das Haus der Himmelssöhne zu. Diesmal blieb es am Boden.
Ia-du-lin fand den Stein neben dem Schalenstuhl. Schnell eilte er mit ihm davon.
Am gewaltigen Ziegelwürfel der Ziggurat mit dem siebenstufigen Turm stockte sein Schritt. Dort stand eine wohlgeordnete Gruppe. Das konnten nur der Hohepriester mit den Oberpriestern sein. Ia-du-lin näherte sich der Gruppe, wie es das Zeremoniell vorschrieb. Sich tief verneigend, flüsterte er: „Hoher Gebieter! Die Söhne der I-na-nua sind in unsere Stadt gekommen. Sie haben sich mir auf dem Weg durch das Gebirge und das Dürrland gezeigt und sich Sil und Azul genannt. Sie sind im Tempel Nan-nars und harren Eurer. Ich eile zu En-mer-kar, es ihm zu berichten.“
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