Wie ein Phantom rannte er vor seinem Verfolger davon auf den Fluß zu. Burton blieb ihm auf den Fersen, fragte sich allerdings, weshalb. Mittlerweile hatten seine Beine ihre volle Kraft zurückgewonnen, und auch seine Augen funktionierten wieder wie zuvor. Ganz plötzlich hatte er Göring erreicht.
Dieser kniete am Ufer des Flusses und starrte angestrengt auf die Wellen, in denen sich das Sternenlicht brach.
Burton sagte: »Sind Sie wieder in Ordnung?«
Göring zuckte zusammen. Er richtete sich ein wenig auf, änderte dann jedoch wieder sein Vorhaben. Stöhnend ließ er das Gesicht auf seine Knie sinken.
»Ich wußte, was ich tat, aber ich hatte keine Ahnung, warum«, sagte er mit dumpfer Stimme. »Karla sagte, daß sie morgen ausziehen würde, da sie die gräßlichen Geräusche, die ich während der Alpträume mache, nicht mehr länger ertragen könne. Ich würde sie in diesem Zustand zu Tode ängstigen. Ich bat sie zu bleiben und sagte ihr, wie sehr ich sie liebe und daß ich sterben würde, wenn sie mich verließe. Sie meinte, sie hätte mich zwar gemocht, aber lieben würde sie mich nicht. Mir erschien es plötzlich nur möglich, sie zu halten, indem ich sie umbrachte. Sie rannte schreiend aus der Hütte. Und den Rest wissen Sie selber.«
»Ich hatte die Absicht, Sie umzubringen«, sagte Burton. »Aber ich sehe jetzt ein, daß Sie genauso wenig für das, was Sie taten, verantwortlich sind, wie ein Geistesgestörter. Die Leute hier werden das allerdings anders sehen. Sie wissen, was man mit Ihnen anstellen wird, nicht wahr? ›Du sollst hängen am Halse, bis der Tod eintritt‹.«
»Ich verstehe es selbst nicht!« schrie Göring plötzlich. »Was ist mit mir geschehen? Diese Alpträume! Glauben Sie mir, Burton, wenn ich je gesündigt habe, habe ich auch dafür bezahlt! Aber das Bezahlen hört für mich niemals auf. Meine Nächte sind die reinste Hölle, und es wird nicht mehr lange dauern, dann werden es auch die Tage sein! Und dann werde ich nur noch eine Möglichkeit haben, meinen Frieden zu finden! Ich muß mich töten, auch wenn es keinen Sinn hat. Die Hölle erwartet mich überall, wo ich wieder erwache!«
»Lassen Sie die Finger von den Drogen«, sagte Burton. »Irgendwie müssen Sie damit fertig werden. Sie können es schaffen. Sie haben mir erzählt, daß Sie schon auf der Erde vom Morphium loskamen.«
Göring stand auf und sah Burton an. »Aber das ist es ja gerade!« rief er aus. »Ich habe das Zeug nicht mehr angefaßt, seit wir hier ankamen!«
»Was?« fragte Burton erstaunt. »Aber ich könnte schwören, daß…«
»Sie sind aufgrund meines Benehmens zu dem Schluß gekommen, daß ich es noch immer benutzen müsse. Aber das stimmt nicht! Ich bin fertig damit, auch wenn sich mein jetziger Zustand nicht von meinem vorherigen unterscheidet!«
Trotz der Verachtung, die Burton Göring gegenüber an den Tag legte, empfand er plötzlich Mitleid mit ihm. »Sie haben die Büchse der Pandora geöffnet, und jetzt sieht es so aus, als seien Sie nicht mehr in der Lage, sie zu verschließen«, sagte er. »Ich habe zwar keine Ahnung, wie das noch alles enden wird, aber ich möchte keinesfalls in Ihrer Haut stecken. Was nicht heißt, daß Sie es nicht verdient hätten.«
Mit ruhiger, gefestigt klingender Stimme sagte Göring: »Ich werde es überwinden.«
»Sie meinen, Sie werden sich selbst überwinden«, erwiderte Burton. Er machte Anstalten zu gehen, wandte sich aber noch ein letztes Mal um. »Was haben Sie jetzt vor?«
Göring deutete auf den Fluß. »Ich werde mich ertränken und einen neuen Anfang versuchen. Vielleicht erweisen sich die Umstände am nächsten Ort als besser. Ich habe ganz sicher nicht die Absicht, hier an einem Galgen zu enden.«
»Dann gute Reise«, sagte Burton. »Und viel Glück.«
»Danke. Wissen Sie, an sich sind Sie gar kein so übler Kerl. Ich möchte Ihnen noch einen Rat geben.«
»Nur zu.«
»Sie sollten besser auch die Finger von den Drogen lassen. Bis heute haben Sie einfach Glück gehabt, aber eines Tages wird das Zeug sich Ihrer in der gleichen Weise bemächtigen, wie es das bei mir getan hat. Die Plagegeister, die Ihnen zusetzen werden, sind natürlich nicht die meinigen, aber ich zweifle nicht daran, daß sie auch ihre Auswirkungen auf Sie haben.«
»Unsinn! Ich habe vor mir nichts zu verbergen«, sagte Burton und lachte.
»Ich habe genug von dem Zeug genommen, um das zu wissen.«
Als er ging, dachte er allerdings noch einmal über Görings Warnung nach.
Bisher hatte er zweiundzwanzig Kaugummitrips eingeworfen. Und nach jeder Reise war das Resultat das gleiche: Er schwor sich stets, von der Droge abzulassen.
Während er den Hügel hinaufstieg, wandte Burton sich noch einmal um und sah die sich von der Dunkelheit abhebende Gestalt Hermann Görings in den Fluten versinken. Er blieb stehen und salutierte, obwohl er im allgemeinen nichts von dramatischen Gesten hielt. Schließlich strich er Göring aus seinem Bewußtsein.
Die Schmerzen im Hinterkopf kehrten zurück; sie waren schärfer als je zuvor.
Burtons Knie drohten mit jedem weiteren Schritt nachzugeben. Als er nur noch wenige Schritte von seiner Hütte entfernt war, mußte er sich hinsetzen.
Da er sich später nicht mehr daran erinnern konnte, aufgestanden zu sein, mußte er das Bewußtsein verloren haben. Als Burton wieder zu sich kam, lag er auf einem Bambusbett im Inneren irgendeiner Hütte.
Es war finster, und das Sternenlicht, das durch ein Fensterviereck zu ihm hereindrang, wurde von den Ästen eines großen Baumes gefiltert. Burton wandte den Kopf zur Seite und sah neben sich die schattenhafte, blaßweiße Gestalt eines Mannes, der auf dem Boden kniete. Er hielt ein dünnes Metallobjekt vor den Augen, dessen leuchtendes Ende genau auf Burtons Stirn zielte.
Im gleichen Moment, in dem Burton den Kopf bewegte, legte der Mann das Gerät weg. In englischer Sprache sagte er: »Es hat mich eine Menge Zeit gekostet, Sie zu finden, Richard Burton.«
Burton tastete mit der linken Hand, die der Fremde nicht sehen konnte, auf dem Fußboden nach einer Waffe. Aber er berührte nichts als Erde und sagte: »Jetzt, wo du mich gefunden hast, du verdammter Ethiker, kann ich dich ja wohl fragen, was du mit mir zu tun gedenkst, wie?«
Der Mann erhob sich langsam und lachte. »Nichts.« Er schwieg eine Weile und sagte dann: »Ich bin keiner von denen.« Als er Burton nach Luft schnappen sah, lachte er erneut. »Obwohl das nicht ganz der Wahrheit entspricht. Ich gehöre zwar zu ihnen, aber ich teile nicht ihre Ziele.«
Er nahm das Gerät, durch das er Burton beobachtet hatte, in die Hand.
»Ich habe gerade herausgefunden, daß Sie an einem Schädelbruch leiden und außerdem eine Gehirnerschütterung haben. Sie scheinen ziemlich zäh zu sein, weil Sie, nach der Schwere Ihrer Verletzung zu urteilen, eigentlich schon gestorben sein müßten. Wenn Sie vorsichtig sind, werden Sie es wahrscheinlich überleben. Aber leider haben Sie nicht genügend Zeit, die Sache auszukurieren. Die anderen wissen, daß Sie sich in diesem Gebiet aufhalten. In etwa einem Tag wird man Sie spätestens ausgemacht haben.«
Burton versuchte sich hinzusetzen, mußte aber zu seiner Bestürzung feststellen, daß seine Knochen so weich geworden waren wie Butter in der Sonne. Sein Schädel schmerzte so sehr, als hätte ein Bajonett ihn geöffnet und sein Gehirn freigelegt. Stöhnend fiel er zurück.
»Wer sind Sie — und was haben Sie vor?«
»Ich kann Ihnen meinen Namen nicht sagen. Falls — oder besser gesagt wenn — man Sie fängt, wird man Ihre gesamten Erinnerungen bis zu jenem Tag in der Vorerweckungsblase zurückverfolgen. Auch wenn sie nicht herausfinden, aus welchen Gründen Sie bereits vor der allgemeinen Erweckung aufwachten: Die Erinnerung an unser jetziges Gespräch finden sie auf jeden Fall. Sie werden sogar in der Lage sein, mich selbst zu sehen; allerdings nur in der gleichen Art, wie Sie mich jetzt sehen — als blassen Schatten. Sie werden auch meine Stimme hören können, aber es ist unmöglich, sie zu analysieren, da ich einen Verzerrer benutze. Es wird sie erschrecken, denn damit entpuppen sich ihre bisherigen Vermutungen als reine Wahrheit: Es gibt einen Verräter in ihren Reihen.«
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