Als Burton am Fuße der Berge für Göring eine Grube aushob, durchzuckte ihn plötzlich die Erinnerung. Er hatte die Arbeit gerade unterbrochen, um einen Schluck Wasser zu trinken, als sein Blick auf Görings Leiche fiel. Der völlig glatte Kopf, die an einen friedlichen Schlaf erinnernden Züge öffneten unerwartet in seinem Bewußtsein eine Tür.
Er hatte dieses Gesicht schon einmal gesehen, und zwar bei seinem frühzeitigen Erwachen in der Vorerweckungsblase. Göring hatte ganz in seiner Nähe in der Luft gehangen, und sein Schädel war — wie bei allen anderen Schläfern auch — ohne jeden Haarwuchs gewesen. Er war ihm nur kurz aufgefallen, und bald darauf hatten die Wächter ihn entdeckt. Und später, nach dem großen Erwachen, hatte er den Mann nur deswegen nicht gleich erkannt, weil auf seinem Haupt bereits wieder blondes Haar sproß.
Aber er wußte, daß Göring sich vor der Erweckung in seiner unmittelbaren Nähe befunden hatte.
Konnte es möglich sein, daß zwei Erweckte, die einander körperlich ziemlich nahe gewesen waren, irgendwelchen gemeinsamen Faktoren unterlagen? War damit das Rätsel, daß sie kurz nach ihrem Tod jeweils am gleichen Gralstein erwachten, geklärt? Vielleicht war Görings scherzhaft geäußerte Vermutung von den verwandten Seelen doch nicht so falsch.
Burton beendete seine Grabarbeit mit einem kräftigen Fluch. Warum nagten an ihm so viele Fragen, auf die er keine Antwort fand? Er nahm sich vor, dem nächsten Ethiker, dem er begegnete, alle Antworten, die er suchte, zu entreißen; gleichgültig welche Mittel er dabei einsetzen mußte.
Die nächsten drei Monate verbrachte er damit, sich an die seltsame Gesellschaft, der er nun angehörte, anzupassen, und registrierte, daß die neue Sprache, die sich aus dem Sumerischen und dem Samoanischen entwickelt hatte, ihn mit Faszination erfüllte. Natürlich dominierte in diesem Idiom der Wortschatz der Sumerer, ganz allein schon deswegen, weil sie zahlenmäßig den größten Teil der Bevölkerung bildeten, auch wenn die Hauptsprache — wie in allen anderen Gebieten — sich nur auf einen Pyrrhussieg berufen konnte.
Das Resultat der Versuche, miteinander zu kommunizieren, bestand aus einem Mischmasch unter primärer Benutzung von Hauptsätzen und einer vereinfachten Syntax. Grammatische Regeln gingen dabei natürlich über Bord; eine ganze Reihe von Wörtern wurde synkopiert, und man unterhielt sich vorzugsweise im Präsens, auch wenn man sich auf die Zukunft bezog. Umstandswörter der Zeit veranschaulichten die Vergangenheit. Spitzfindigkeiten drückte man mit Erklärungen aus, die sowohl die Sumerer als auch die Samoaner verstehen konnten, auch wenn sie im ersten Moment unbeholfen und naiv erschienen.
Viele samoanische Worte begannen allerdings — unter mehr oder weniger großer Veränderung der Phonetik — Ausdrücke der sumerischen Sprache zu verdrängen.
Ähnliche Mischmaschsprachen hatten sich auch in allen anderen Zonen des Flußtals gebildet. Burton kam zu der Ansicht, daß die Ethiker sich beeilen mußten, wenn sie wirklich die Absicht hatten, alle irdischen Sprachen aufzuzeichnen, denn sie starben bereits aus. Aber möglicherweise hatten sie ihr Ziel auch schon erreicht. Wer konnte schon wissen, ob die Speichergeräte, die für die Materialisation der Menschen zuständig waren, nicht auch bereits jedes gesprochene Wort aufgezeichnet hatten?
An den Abenden, die Möglichkeiten zum Nachdenken in entspannter Stimmung boten, setzte Burton sich irgendwo allein hin und paffte die Zigarren, mit denen ihn sein Gral in großzügiger Weise belieferte, und versuchte, die Situation zu analysieren. Wem konnte er überhaupt trauen; den Ethikern oder dem rätselhaften Renegaten? Vielleicht belog man ihn von beiden Seiten?
Warum verlangte der Fremde von ihm, daß er Sand in das Getriebe einer kosmischen Maschinerie warf? Was konnte ein einfacher Mensch wie er, der zudem noch in diesem Tal gefangen war und nur über begrenzte Möglichkeiten verfügte, schon tun, um diesem Judas zu helfen?
Eines zumindest war sicher. Der Fremde benötigte seine Hilfe, sonst hätte er sich gar nicht erst zu erkennen gegeben. Er wollte, daß Burton den geheimnisvollen Turm am Nordpol des Planeten erreichte.
Aber warum?
Burton brauchte zwei Wochen, um zu einem akzeptablen Schluß zu kommen.
Der Fremde hatte gesagt, daß er — ebenso wie die anderen Ethiker — sich nicht dazu überwinden könne, auf direktem Wege menschliches Leben zu zerstören. Aber er hatte offensichtlich keinerlei Skrupel, es auf Umwegen zu tun, wie die Tatsache bewies, daß er Burton die Giftkapsel ausgehändigt hatte. Wenn er also Burtons Plan, den Turm zu erreichen, unterstützte, mochte das bedeuten, daß er in ihm ein potentielles Mordwerkzeug sah. Er würde den Tiger auf seine eigenen Leute hetzen und dem gedungenen Mörder Tür und Tor öffnen.
Aber Meuchelmörder verlangten in der Regel ihren Preis. Was hatte der Fremde ihm anzubieten? Burton inhalierte tief den Rauch seiner Zigarre, stieß ihn durch die Nasenlöcher wieder aus und nahm einen Schluck Bourbon. Na gut. Der Fremde würde versuchen, ihn zu benutzen. Aber er sollte sich in acht nehmen und aufpassen, daß sein Werkzeug nicht ihn benutzte.
Nachdem weitere drei Monate vergangen waren, entschied sich Burton, nun genug nachgedacht zu haben. Es war an der Zeit, den Schauplatz zu wechseln und zu handeln.
Da er sich gerade mitten im Wasser befand, folgte er einem Impuls und tauchte so tief unter, bis die Rebellion seines Körpers nutzlos wurde und die Chance, schnell wieder aufzutauchen, gleich Null war. Die Raubfische würden seine Leiche fressen, während seine Gebeine auf dem Grund des dreihundert Meter tiefen Flusses zu Staub zerfielen. Je tiefer sie sanken, desto besser. Er wollte nicht, daß sein Körper den Ethikern in die Hände fiel. Wenn die Aussagen des Fremden stimmten, waren sie dazu in der Lage, aus seinen Hirnwindungen alles herauszulesen, was er im Laufe seines hiesigen Lebens gesehen, gehört und gedacht hatte.
Und allem Anschein nach hatten sie seine Leiche wirklich nie gefunden.
Während der nächsten sieben Jahre hatte Burton vor den Suchkommandos der Ethiker Ruhe, und wenn der Renegat wußte, wo Burton sich aufhielt, ließ er es ihn zumindest nicht spüren. Burton bezweifelte, daß überhaupt jemand über seinen Aufenthaltsort Bescheid wußte; er selbst hatte keine Ahnung, an welcher Stelle des Flußplaneten er sich aufhielt und ob er seinem Ziel, dem mutmaßlichen Hauptquartier der Ethiker, inzwischen nähergekommen war. Er machte seinen Weg. Ging weiter und weiter und weiter. Und irgendeines Tages wurde ihm klar, daß er eine Art Rekord gebrochen hatte: Der Tod war inzwischen zu seiner zweiten Natur geworden.
Wenn seine Rechnung stimmte, hatte er jetzt genau 777 Reisen im Suizid-Expreß hinter sich gebracht.
Manchmal hielt Burton sich für einen planetarischen Grashüpfer, der mit vollem Bewußtsein in den Tod sprang, danach in einem anderen Kosmos erwachte, an einem Grashalm knabberte und mit einem Auge ständig die schattenhafte Umgebung nach einer tödlichen Gefahr absuchte — den Ethikern.
Er hatte auf dieser reichhaltigen Wiese, die die Menschheit darstellte, an vielen Grassorten geschnuppert, einige probiert und war schließlich dann doch immer weitergezogen.
Und es kam auch vor, daß er sich als ein Netz sah, das hie und da Musterexemplare der Menschheit aus einem großen See schöpfte. Gelegentlich gingen ihm große Exemplare ins Netz, aber die meisten waren einfache Sardinen, obwohl man von den kleinen Fischen ebensoviel — wenn nicht gar mehr — lernen konnte als von den großen.
Das Sinnbild des Netzes gefiel ihm weniger als das des Grashüpfers, und schuld daran war die Tatsache, daß er genau wußte, irgendwo über ihm schwebte ein noch größeres, das ganz allein ihm gewidmet war.
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