Westlich von uns, da wo der Chronolith sein musste, war nichts zu sehen als eine Wand aus Nebel und Staub. Ich stemmte mich die Stufen hinauf und zog die Tür ins Schloss. Am eiskalten Hebel klebte Haut. Sie stammte nicht nur von mir.
Sue fand ein paar batteriegespeiste Lampen und schaltete eine nach der anderen ein. Etwa ein Dutzend von uns waren noch im Bunker.
Kaum dass wir einander sehen konnten, sah ich, wie Sue gegen einen der inaktiven Telemetrieapparate sackte. Ich schwamm im Freistil durch den Raum und hätte sie fast umgerissen. Ihre Haut war entsetzlich kalt (und meine bestimmt auch). Ray stand ganz in der Nähe, hielt aber die Augen geschlossen und schien nur noch periodisch bei Bewusstsein. Hitch hockte an der Tür, wacher denn je.
Sue legte den Kopf an meine Schulter.
»Es hat nicht funktioniert, Scotty«, flüsterte sie.
»Darüber denken wir später nach.«
»Aber es hat nicht funktioniert. Und wenn es nicht funktioniert hat…«
»Psch.«
Der Chronolith war gelandet. Der erste Chronolith auf amerikanischem Boden… und kein kleiner, nach den Nebenwirkungen zu urteilen. Sue hatte Recht. Wir hatten versagt.
»Aber Scotty«, sagte sie konfus, und ihre Stimme klang unendlich müde, »wenn es nicht funktioniert hat… was hab ich dann hier verloren? Was soll ich hier?«
Ich hielt das für eine rhetorische Frage. Doch Sue hatte noch nie eine Frage so ernst gemeint.
Ich nehme an, wenn die Geschichte eine gewisse Objektivität zulässt, wird sich auch jemand finden, der die ästhetische Seite der Chronolithen zu würdigen weiß.
So obszön diese Vorstellung erscheinen mag, diese Monumente sind durchaus Objekte der Kunst, ein jedes auf seine Weise, keine zwei, die einander völlig gleichen.
Manche wirken primitiv, wie der Kuin von Chumphon: vergleichsweise klein, arm an Detail, wie in Sand gegossener Schmuck; das Werk eines Anfängers. Andere sind feiner gearbeitet und sorgfältiger konzipiert (aber noch so stereotypisch wie der Sowjetische Realismus). Zum Beispiel der Kuin von Islamabad oder der von Capetown: Kuin als gutmütiger Riese, freundlich männlich.
Doch die unverkennbarsten Chronolithen sind die monströsen Kolosse, die Stadtzerstörer. Der Kuin von Bangkok, breitbeinig über der braunen Flut des Chao Phrya stehend; der Gewandete Kuin von Bombay; der gestrenge und patriarchalische von Jerusalem, der die Weltreligionen zu umarmen scheint, obwohl die Trümmer religiöser Zeugnisse verstreut zu seinen Füßen liegen.
Der Kuin von Wyoming übertraf sie alle. Sue hatte Recht behalten, was die Bedeutsamkeit dieses Monuments betraf. Es war der erste amerikanische Chronolith, ein Symbol des Triumphs im Herzland der westlichen Großmacht, und sollte seine Manifestation in diesem Brachland ein Akt der Ehrerbietung gegenüber den großen amerikanischen Städten sein, blieb die Symbolik, was sie war: unverschämt und unmissverständlich.
Der Griff der Kälte lockerte sich schließlich. Wir erwachten aus unserer Apathie — uns dämmerte, was sich zugetragen hatte und was uns nicht gelungen war.
Typisch Hitch. Sein erster Gedanke war praktischer Natur. »Kommt in die Gänge«, krächzte er. »Nichts wie weg, ehe sich die Banditen an uns erinnern. Und auf keinen Fall den Highway benutzen.«
Sue zögerte, fixierte die batteriegepufferten Konsolen an der Bunkerwand. Die Messinstrumente blinzelten unzusammenhängend, lechzten nach Daten.
»Sie auch, Madam«, sagte Hitch.
»Das könnte wichtig sein«, sagte sie. »Ein paar von diesen Werten kleben förmlich an der Decke.«
»Zum Teufel mit den Werten.« Er torkelte vor uns zur Tür.
Sue schluchzte auf angesichts des Chronolithen, der den Himmel beherrschte.
Ray schloss auf; ich folgte Hitch. Einer von den wenigen Ingenieuren, die nicht auf und davon waren, ein grauhaariger Mann namens MacGruder, trat ins Freie und fiel in einem Akt schierer, wenn auch unfreiwilliger Verehrung auf die Knie.
Der Kuin war… nun, es lässt sich kaum mit Worten beschreiben.
Riesig war er — und schön. Er überragte die nächste Landmarke, den Steilfelsen, auf dem sich die Milizionäre eingenistet hatten. Der Tau-Reaktor samt Unterbau war natürlich von der Bildfläche verschwunden. Die Eislasur des Chronolithen wurde bereits dünner — die hiesige Luftfeuchtigkeit war normalerweise niedrig — und die Details des Monuments traten offen zutage, abgesehen von den dünnen Nebelschwaden, die sich da und dort von der Oberfläche lösten. Er stand da, bekränzt mit seiner eigenen Wolke, majestätisch, überwältigend und hoch wie ein Berg. Aus unserem Blickwinkel war sein Gesicht angeschnitten, suggerierte aber selbstgefällige Zufriedenheit und ungetrübten Optimismus.
Eiskristalle schmolzen und kamen rings um uns her als feiner, kalter Nebel herunter. Der Wind wechselte sprunghaft die Richtung, mal war er warm, mal kalt.
Das Hauptkontingent der Kuinisten war in den Süden des Geländes gesickert. Der Kälteschock musste viele von ihnen außer Gefecht gesetzt haben, aber der Hauptzaun dort verlief gut zwei Meilen abseits vom Chronolithen, und nach dem neuerlich aufgeflammten Gewehrfeuer zu urteilen waren sie durchaus in der Lage, unsere Soldaten dort zu binden. Die Soldaten, die uns näher waren, hatten in ihrer Thermomontur überlebt, schienen aber desorientiert und verunsichert — ihr Sprechfunk funktionierte nicht mehr, und sie sammelten sich am Osttor, beziehungsweise was davon noch übrig war.
Keine Spur von den Milizionären, die sich den Tau-Reaktor vorgenommen hatten.
Ray riet den unbeholfen aus dem Bunker kletternden Ingenieuren und Technikern, sich den Soldaten anzuschließen. Die Journalisten im Schutz des Bunkers hatten sich wohl anders entschieden. Sie preschten in ihren kugelsicheren Vans über den gestürzten Zaun, hatten dieses atemberaubende Bild im Kasten und waren bestimmt schon auf Sendung damit: der gigantische neue Kuin von Wyoming. Der unübersehbare Beweis für unser schmähliches Versagen.
Ray sagte: »Komm, wir bringen Sue in den Wagen.«
Sue hatte aufgehört zu heulen, starrte aber wie gebannt auf den Chronolithen. Ray stützte sie. Sie flüsterte: »Da stimmt doch was nicht…«
»Da stimmt eine ganze Menge nicht. Komm jetzt. Wir müssen weg hier.«
Sie schüttelte Rays Hand ab. »Nein, den Chronolithen meine ich. Die Werte kleben an der Decke. Ich brauche einen Sextanten. Und eine Karte. Im Wagen ist eine topografische Karte, aber — Hitchl «
Hitch kam zurück.
»Ich brauche einen Sextanten! Fragen Sie einen Ingenieur!«
» Was brauchen Sie?«, fragte Hitch.
»Einen Sextantenl «
Hitch forderte Ray auf, den Wagen zu starten, holte einen Digitalsextanten samt Stativ aus dem Vermessungswagen und eilte damit zurück. Ungeachtet der Windböen brachte Sue das Gerät in Stellung. Sie kritzelte Zahlen in ihr Notizbuch. Ray sagte ruhig, aber bestimmt: »Ich glaube nicht, dass das noch wichtig ist.«
»Was?«
»Messungen vorzunehmen.«
»Ich mache das nicht zum Spaß«, sagte sie hitzig, doch beim Zusammenklappen des Stativs erlitt sie einen Schwächeanfall — Ray konnte sie auffangen und wir trugen sie zum Wagen.
Ich pflückte ihr Notizbuch aus dem eisigen Morast.
Hitch fuhr, derweil Ray und ich ihr ein Kissen unter den Kopf schoben und sie zudeckten. Die Soldaten wollten uns aufhalten. Eine Wache mit Gewehr und nervöser Miene bückte sich ans Fenster und funkelte Hitch an: »Sir, ich kann nicht für Ihre Sicherheit garantieren…«
»Okay«, sagte Hitch, »verstehe«, und gab Gas.
Lebenswichtig für uns — vor allem aber für Sue — war es, ein gutes Stück Entfernung zwischen uns und diesen Ort zu bringen. Auf unbefestigten Straßen brauste Hitch über Land; solche Straßen endeten meist an einer verfallenen Ranch oder einer längst ausgetrockneten Viehtränke. Keine vielversprechende Route. Doch Hitch hatte ein Faible für solche Routen.
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