Der Reaktor selbst stand groteskerweise völlig schutzlos da; allerdings wollten ihn unsere Soldaten so lange verteidigen, wie man den Zaun halten konnte. Zum Glück, meinte Hitch, sei der bunt zusammengewürfelte Haufen Kuinisten unten an der Straße alles andere als eine überlegene Streitmacht.
»Vielleicht kommen wir gerade noch hin, Scotty«, sagte er. »Mit ein bisschen Glück.«
»Wie geht es Sue?«
»Ich habe sie seit Sonnenaufgang nicht gesehen, aber… wie es ihr geht? Zu viel Adrenalin. Würd mich nicht wundern, wenn sie der Schlag trifft.« Er sah mich seltsam an. »Sag mir eins. Wie gut kennst du sie?«
»Ich kenne sie seit meiner Studentenzeit.«
»Ja schon, aber wie gut? Ich arbeite auch schon lange für sie, aber ich kann nicht behaupten, dass ich sie wirklich kenne. Sie redet über ihre Arbeit — und über mehr nicht, bei mir jedenfalls. Fühlt sie sich jemals einsam, kennt sie Angst, Wut?«
Diese Unterhaltung schien mir so gar nicht zu dem Gewehrfeuer zu passen, das nach wie vor aufbellte. »Was soll das?«
»Wir wissen nichts über sie, aber da sind wir und tun, was sie sagt. Was mir reichlich komisch vorkommt, wenn ich drüber nachdenke.«
Auch mir kam das komisch vor, im Moment jedenfalls. Was hatte ich hier verloren? Nichts. Ich riskierte mein Leben, und nützlich machte ich mich bestimmt nicht. Aber Sue sah das anders. Du wartest, bis deine Zeit gekommen ist, würde sie sagen. Du wartest auf die Turbulenz.
Mir fiel ein, was Hitch mir in Minneapolis unmissverständlich erklärt hatte: dass er nämlich Menschen getötet habe. »Wie gut konnte man einen Menschen überhaupt kennen?«
»Heute früh ist es kühler«, sagte Hitch. »Selbst in der Sonne. Schon gemerkt?«
Wenige Tage zuvor tauchte Adam Mills vor der Tür seiner Mutter auf — zusammen mit fünf brutalen Typen und einem Sortiment verdeckter Waffen.
Ich will nicht lange drumherum reden.
Adam war natürlich psychotisch. Klinisch psychotisch, meine ich. Die Symptome waren vollzählig. Er war antisozial, ein Tyrann und auf eine gewisse perverse Weise sogar eine Führernatur. Sein geistiges Universum war eine Mansarde, vollgestopft mit Secondhand-Ideologie und großkotzigen Phantasiegebilden, allesamt ausgerichtet auf Kuin oder was immer er sich unter Kuin vorstellte. Er hatte nie die natürlichen menschlichen Bindungen an Familie oder Freunde entwickelt. Alles deutete darauf hin, dass er keinerlei Gewissen hatte.
Wenn Ashlee in gedrückter Stimmung ist, sucht sie die Schuld bei sich; doch Adam war das Produkt seiner Hirnchemie und nicht seiner Erziehung. Ein Genomprofil und ein paar simple Blutuntersuchungen zur rechten Zeit hätten sein Problem deutlich gemacht. Vielleicht wäre er bis zu einem gewissen Grad therapierbar gewesen, ja. Doch eine so anspruchsvolle medizinische Intervention hätte Ash sich zu keiner Zeit leisten können.
Ich kann und will mir nicht vorstellen, was Ashlee in den wenigen Stunden mit Adam ausgestanden hat. Am Ende hat sie den fraglichen Ort in Wyoming preisgegeben, ihn und die Tatsache, dass ich, Hitch Paley und Sue Chopra dort waren, um — und das war das Entscheidende — den Chronolithen zu sabotieren.
Man darf ihr keinen Vorwurf machen.
Die Folge war, dass Adam bereits achtundvierzig Stunden früher als die Presse über den Chronolithen und unser Vorhaben informiert war.
Adam fuhr sofort Richtung Westen, ließ aber zwei seiner Schergen zurück, um unbequeme Telefonate seitens Ashlee zu unterbinden. Er hätte sie einfach töten können, entschied sich aber, sie in Reserve zu halten, als Geisel womöglich.
So schlimm das alles war, es kam noch schlimmer.
Nicht lange, nachdem Adam weg war, kam Kaitlin vorbei: Sie hatte immer noch keine Ahnung, was sich bei Janice und Whit abgespielt hatte, und wollte Ashlee Gesellschaft leisten — bei einem gemütlichen Mittagessen und abends vielleicht noch bei einem Film.
Nach Jerusalem und Portillo waren die Messmethoden für niedrige Streustrahlung verfeinert worden. Sues Mitarbeiter konnten den Countdown diesmal viel genauer ausrichten. Doch wir konnten die Ankunft förmlich spüren, auch ohne Countdown.
Hier nun die Lage, als ich aus dem Bunker kletterte, um ein letztes Mal frische Luft zu schöpfen, gut zwanzig Minuten, ehe der Reaktor aktiviert werden sollte.
Weiter südlich am Highway hatte es noch mehr Scharmützel gegeben und sporadisch auch an verschiedenen Punkten des Hauptzauns. Bis jetzt hatten Orts- und Staatspolizei die Kuinisten im Zaum halten können — der Sturm auf das Parlamentsgebäude von Wyoming hatte die Kuinisten viel Sympathie gekostet, nicht zuletzt bei Verwaltung und Polizei. Ein Soldat der Vereinigten Streitkräfte war von einem Omega-Milizionär verletzt worden, der versucht hatte, den Zaun mit einem Geländewagen zu durchbrechen, und am frühen Nachmittag waren vier bewaffnete Kuinisten unbekannter Zugehörigkeit erschossen worden, die versucht hatten, den nördlichen Kontrollpunkt zu stürmen. Seitdem war es bei Drohgebärden und vereinzelten Festnahmen geblieben… obwohl die Menschenmenge immer noch wuchs.
Sue hatte einem Trupp von Journalisten die Genehmigung erteilt, ein gutes Stück hinter dem Bunker ihre Aufnahmetechnik zu installieren, und ich konnte sie von meinem Standort aus sehen, eine Phalanx von Trucks und Stativen, die sich so lang wie ein Footballfeld Richtung Osten erstreckte. Es gab Dutzende von diesen Leuten, die meisten aus Cheyenne hierherbeordert, und sie repräsentierten alle größeren Newsprovider und nicht wenige von den seriöseren Unabhängigen. Aber so viele es auch waren, sie schienen sich in der braunen Weite des Landes zu verlieren. Ein zweites Kontingent aus unabhängigen Journalisten hatte sich über dem Felssturz aufgebaut, näher als Sue lieb war, aber unsere Kooperation mit den Medien nannte diese Leute »sehr engagiert und beharrlich« — was gleichbedeutend war mit penetrant und stur. Auch diese Kameras konnte ich sehen, die Felskante strotzte davon.
Viele von unseren Maschinenführern und Bauarbeitern hatten den Schauplatz bereits verlassen. Die verbleibenden technischen und wissenschaftlichen Kräfte wurden jetzt entweder in den Bunker gepfercht oder hinter die Linien der Journalisten geschickt.
Der Tau-Reaktor hing in seinem Stahlgerüst wie ein riesiges schwarzes Ei. Die Staubwolke auf der planierten Zugangsstraße stammte von Hitch Paley, der den letzten Laster des ursprünglichen Konvois heraufbrachte, um ihn beim Bunker abzustellen. Alle diese Fahrzeuge waren auf Kälteresistenz getrimmt.
Nicht mehr zu leugnen war auch die Tau-Frische, jener herbe Vorbote in der Luft — aber auch im Boden, Fleisch und Blut und Knochen. Bis jetzt war die Temperatur erst um den Bruchteil eines Grades gefallen. Der Kälteschock kroch eben erst aus den Startlöchern und machte sich schon bemerkbar, als leises Prickeln auf der Haut.
Ich nahm mein Handy heraus und versuchte erneut, Ashlee zu erreichen. Der Anruf kam nicht durch, so wie alle meine Anrufe seit fast einer Woche. Manchmal bekam ich eine allgemeine Fehlermeldung, dann wieder (wie jetzt) nur ein leeres Display und ein verzerrtes Raunen. Ich steckte das Handy wieder weg.
Ich war überrascht, als Sue Chopra die Stahltür des Bunkers öffnete und hinter mir ins Freie stieg. Sie war blass und zitterte. Sie beschattete die Augen.
Ich sagte: »Müsstest du nicht unten sein?«
»Die Uhr ist aufgezogen«, sagte sie. »Sie läuft von selbst.«
Sie stolperte über eine Mesquitwurzel, und ich schnappte sie beim Ellbogen. Sie fühlte sich kalt an.
»Scotty«, sagte sie, als habe sie mich erst jetzt erkannt.
»Tief durchatmen«, sagte ich. »Bist du okay?«
»Nur müde. Und nichts gegessen.« Sie schüttelte verstört den Kopf. »Die Frage, die mir nicht aus dem Kopf geht — bin ich eine Marionette? Oder bin ich aus freien Stücken hier? Das ist das Merkwürdige bei der Tau-Turbulenz. Sie gibt uns eine Bestimmung. Aber eine Bestimmung ohne Gott. Eine Vorsehung, für die niemand verantwortlich zeichnet.«
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