»Warum? Weil du über sie weg bist oder weil du Angst vor ihr hast? Aber ich könnte ihr die gleiche Frage stellen — falls sie sich mal melden würde. Simon führt sie an der kurzen Leine. Ich vermute, sie vermisst die alten NK-Zeiten, als die Bewegung noch voller nackter Unitarier und evangelikaler Hippies war. Der Preis der Frömmigkeit ist inzwischen ganz schön happig… Aber sie spricht hin und wieder mit Carol.«
»Ist sie wenigstens glücklich?«
»Diane lebt unter Fanatikern. Sie ist vielleicht selber eine. Glück ist bei denen nicht vorgesehen.«
»Glaubst du, dass sie in Gefahr ist?«
Er zuckte mit den Achseln. »Ich glaube, sie führt das Leben, das sie für sich gewählt hat. Sie hätte andere Entscheidungen treffen können. Sie hätte zum Beispiel dich heiraten können, Tyler, wenn sie nicht diese lächerliche Vorstellung im Kopf gehabt hätte.«
»Vorstellung?«
»Dass E. D. dein Vater ist. Und sie deine leibliche Schwester.«
Ich trat allzu hastig vom Bücherregal weg, warf dabei die Bilder zu Boden. »Das ist doch lächerlich.«
»Vollkommen lächerlich. Aber ich glaube, endgültig verabschiedet hat sie sich davon erst, als sie auf dem College war.«
»Aber wie um Himmels willen kam sie denn darauf?«
»Es war ein reines Fantasiegebilde, keine Theorie. Denk mal nach. Es gab nie sehr viel Zuneigung zwischen Diane und E. D. Sie fühlte sich unbeachtet. Und in gewissem Sinne hatte sie Recht. E. D. hat nie eine Tochter haben wollen, er wollte einen Erben, einen männlichen Erben. Er hatte hohe Erwartungen und zufällig habe ich ihnen entsprochen. Diane war für ihn nur eine unnütze Ablenkung. Er erwartete, dass Carol sie aufzieht, und Carol… Carol war dieser Aufgabe nicht gewachsen.«
»Und deshalb hat sie diese… Geschichte erfunden?«
»Sie hat es als eine Schlussfolgerung angesehen. Es lieferte eine Erklärung dafür, dass E. D. deine Mutter und dich auf dem Grundstück hat wohnen lassen. Und es erklärte, warum Carol immerzu unglücklich war. Und vor allem fühlte sie sich selbst besser dabei. Deine Mutter war netter und herzlicher zu ihr, als Carol es je war. Ihr gefiel die Vorstellung, mit der Familie Dupree blutsverwandt zu sein.«
Ich sah Jason an. Sein Gesicht war bleich, die Pupillen geweitet, der Blick distanziert und aufs Fenster gerichtet. Ich rief mir in Erinnerung, dass er mein Patient war, dass er eine psychologische Reaktion auf ein starkes Medikament zeigte, dass dies derselbe Mann war, der noch wenige Stunden zuvor angesichts seiner Inkontinenz in Tränen ausgebrochen war. »Ich sollte jetzt wirklich gehen, Jason.«
»Warum? Ist das alles so schockierend? Hast du gedacht, das Aufwachsen würde schmerzfrei verlaufen?« Dann plötzlich, noch bevor ich antworten konnte, wandte er den Kopf und blickte mir zum ersten Mal an diesem Abend in die Augen. »O je, mir kommt langsam der Verdacht, dass ich mich schlecht benommen habe.«
»Die Medikation…«
»Ganz ungeheuerlich schlecht. Tyler, es tut mir Leid.«
»Du fühlst dich besser, wenn du eine Nacht geschlafen hast. Aber du solltest die nächsten paar Tage nicht zur Arbeit gehen.«
»Werde ich nicht. Kommst du morgen vorbei?«
»Ja.«
»Danke.«
Ich ging, ohne noch etwas zu sagen.
Es war der Winter der Startrampen.
Neue Abschussrampen waren nicht nur in Canaveral, sondern auch in der Wüste im Südwesten, in Südfrankreich und Äquatorialafrika, in Jiuquan und Xichang in China und in Baikonur und Svobodny in Russland errichtet worden; Rampen für die Saatgutfrachten zum Mars und besonders große Rampen für die sogenannten Riesengestelle, gewaltige Trägerraketen, die menschliche Freiwillige zu einem halbwegs bewohnbaren Mars transportieren sollten, falls das grobe Terraformen von Erfolg gekrönt war. Die Rampen wuchsen in diesem Winter wie Eisen- und Stahlwälder, reich und üppig, verwurzelt in Beton, bewässert mit reichlichen Mitteln aus dem Bundesetat.
Die ersten Saatgutraketen waren in gewisser Weise weniger spektakulär als die für sie gebauten Abschussvorrichtungen. Es waren Trägerraketen vom Fließband, massengefertigt nach alten Titan- und Deltaschablonen, kein Gramm oder Mikrochip komplizierter als unbedingt nötig, und als der Winter in den Frühling überging, da bevölkerten sie ihre Rampen in geradezu beängstigender Anzahl, wie Baumwollhülsen vor dem Aufplatzen, auf dem Sprung, einem fernen, sterilen Boden Leben zuzuführen.
In gewissem Sinne herrschte auch Frühling im ganzen Sonnensystem — oder jedenfalls ein verlängerter Altweibersommer. Die bewohnbare Zone breitete sich nach außen aus, während die Sonne ihren Heliumkern erschöpfte, umfasste nach und nach den Mars, wie sie später auch den wasserhaltigen Jupitermond Ganymed umfassen würde, ein weiteres potenzielles Objekt zur Terraformung. Auf dem Mars hatten im Laufe von Millionen von wärmenden Sommern gewaltige Massen von gefrorenem CO 2und wässrigem Eis begonnen, in die Atmosphäre zu sublimieren. Zu Beginn des Spins hatte der atmosphärische Druck auf Bodenhöhe ungefähr acht Millibar betragen, die Luft war ähnlich dünn wie auf der Erde etwa fünf Kilometer über dem Gipfel des Mount Everest. Inzwischen hatte der Planet, selbst ohne menschliche Intervention, ein Klima entwickelt, das dem einer in Kohlendioxid getauchten arktischen Bergregion entsprach — nach marsianischen Maßstäben ausgesprochen milde.
Und wir hatten die Absicht, diesen Prozess weiterzutreiben. Wollten die Luft des Planeten mit Sauerstoff anreichern, wollten seine Tiefebenen begrünen, wollten Teiche schaffen, wo gegenwärtig noch das periodisch tauende Eis in Geysire aus Wasserdampf ausbrach oder einen giftigen Schlamm bildete.
Wir waren gefährlich optimistisch in diesem Winter der Startrampen.
Am 3. März, kurz vor den geplanten ersten Saatgutstarts, rief Carol Lawton mich zu Hause an und berichtete mir, dass meine Mutter einen schweren Schlaganfall erlitten hätte und die Ärzte mit ihrem baldigen Tod rechneten.
Ich organisierte eine Vertretung bei Perihelion, fuhr nach Orlando und buchte den ersten Flug am Morgen nach D.C.
Carol holte mich am Reagan International ab, in offenbar nüchternem Zustand. Sie breitete die Arme aus, und ich schloss sie in meine, diese Frau, die mir in all den Jahren, in denen ich auf ihrem Grundstück gelebt hatte, nie anders als mit verwirrter Gleichgültigkeit begegnet war. Dann trat sie einen Schritt zurück und legte ihre zitternden Hände auf meine Schultern. »Es tut mir so Leid, Tyler.«
»Lebt sie noch?«
»Ja. Komm, draußen wartet ein Wagen auf uns. Wir können während der Fahrt reden.«
Ich folgte ihr zu einem Auto, das wohl von E. D. zur Verfügung gestellt worden war, eine schwarze Limousine mit Regierungsplakette. Der Fahrer sprach kaum ein Wort, während er mein Gepäck in den Kofferraum lud, tippte sich lediglich an die Mütze, als ich ihm dankte. Nachdem wir eingestiegen waren, fuhr er, ohne erst eine entsprechende Anweisung entgegenzunehmen, in Richtung George-Washington-Universitätsklinik.
Carol war dünner, als ich sie in Erinnerung hatte — sie versank wie ein Vogel in den Lederpolstern. Sie zog ein Baumwolltaschentuch aus ihrer winzigen Handtasche und betupfte sich die Augen. »Dieses lächerliche Geheule. Gestern habe ich meine Kontaktlinsen verloren. Praktisch aus den Augen rausgeweint, das musst du dir mal vorstellen. Es gibt Dinge, die man als selbstverständlich betrachtet. Für mich war es die Tatsache, dass ich deine Mutter im Haus hatte, die für Ordnung sorgte. Oder einfach das Wissen, dass sie in der Nähe war, auf der anderen Seite des Rasens. Ich bin nachts immer aufgewacht — ich schlafe nicht sehr gut, was dich vermutlich nicht überraschen wird —, ich bin also nachts aufgewacht und hatte das Gefühl, die Welt sei zerbrechlich und ich könnte hindurchfallen, direkt durch den Fußboden durch, und ewig weiterfallen. Dann hab ich immer an sie gedacht, drüben im Kleinen Haus, mit ihrem gesunden Schlaf, tief und fest. Es war wie ein gerichtsverwertbarer Beweis. Beweisstück A, Belinda Dupree, oder: es gibt einen inneren Frieden. Sie war der Grundpfeiler des ganzen Haushalts, Tyler, ob du es gewusst hast oder nicht.«
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