Eines Vormittags, als Joyce im Restaurant arbeitete und er zu Hause war und sich ein wenig einsam fühlte, nahm er den Telefonhörer von der Gabel und wählte die Nummer der Fernvermittlung. Er verlangte eine Verbindung mit der Praxis von Dr. Winter in Belltower, Washington, in der Poplar Street. Das Rufzeichen ertönte dreimal, ein leises Summen, und eine Frau meldete sich. Die Stimme meiner Mutter. Es war ein lähmender Gedanke. Was sollte er zu ihr sagen?
Aber es war nicht seine Mutter. Es war die Sprechstundenhilfe seines Vaters, Miss Trudy Velasquez, an die er sich schwach erinnerte. Eine imposant aussehende Spanierin mit orthopädischen Schuhen und einem Atem, der nach Pfefferminz roch. Dr. Winter sei unterwegs zu einem Hausbesuch, sagte sie, und mit wem sie überhaupt spreche?
»Es ist nichts Dringendes«, sagte Tom. »Ich versuche es später noch einmal.«
Viel später. Vielleicht nie. In diesem Akt lag etwas Perverses. Es erschien irgendwie falsch, diesen unschuldigen Haushalt mit einem anonymen Anruf zu stören — zu verwickelt und ödipal, zu seltsam.
Dann dachte er: Aber ich muss sie anrufen. Ich muss sie warnen.
Sie warnen, an einem bestimmten Datum in etwa fünfzehn Jahren nicht über den Küstenhighway zu fahren.
Ich muss sie warnen, um ihr Leben zu retten. Damit Tom Medizin studieren konnte, wie sein Vater es verlangt hatte. Damit er Barbara nicht kennenlernte, sie nicht heiratete, sich nicht von ihr scheiden ließ, kein Haus an der Post Road kaufte, nicht in die Vergangenheit reiste, kein Telefongespräch führte, sie nicht warnen würde, ihr Leben nicht rettete.
Damit er, wahrscheinlich, für immer und ewig zwischen diesen Möglichkeiten umherirrte, so geisterhaft wie Schrödingers Katze.
Das war die Vergangenheit, sagte Tom sich, und die Vergangenheit muss unveränderlich sein — der Tod seiner Eltern eingeschlossen. Nichts anderes machte Sinn. Wenn die Vergangenheit fließend war und verändert werden konnte, dann hatte Tom die Aufgabe, sie zu ändern. Er müsste Flugzeuge vor Bomben warnen, Lee Harvey Oswald in dem Lagerhaus auflauern, die Passagierhallen in den Flughäfen räumen lassen, ehe die Attentäter mit ihren Waffen auftauchten… Eine unvorstellbare, unerträgliche Bürde moralischer Verantwortung.
Um der Vernunft und der Normalität willen musste die Vergangenheit eine statische Landschaft bleiben. Wenn er die PanAm warnte, dass eine ihrer Maschinen abstürzen werde, dann würde niemand ihm glauben. Wenn er nach Dallas flöge, um den Präsidenten zu warnen, würde er seine Maschine verpassen oder an der Gepäckausgabe einen Herzinfarkt erleiden. Er wusste nicht, welche unsichtbare Hand diese Ereignisse inszenieren würde, nur dass die Alternative noch weniger einleuchtend wäre. Wenn er versuchte, die Geschichte zu ändern, würde es ihm nicht gelingen… mehr gab es dazu nicht festzustellen.
Es wäre sogar gefährlich, nur den Versuch zu unternehmen.
Aber er dachte oft über den Anruf nach. Dachte daran, sie zu warnen. Dachte daran, ihr Leben zu retten.
Es war wohl kaum dringend. Vorerst und viele weitere Jahre lang würden sie leben, würden zufrieden und glücklich sein und sicherer, als sie ahnten.
Aber wenn das Datum herannahte — falls er hierbliebe und falls er so lange lebte —, dann, so dachte Tom, müsste er vielleicht das Telefongespräch führen, Risiko oder nicht Risiko… oder mit dem Wissen weiterleben, dass sie gestorben waren, obwohl er sie hätte retten können.
Vielleicht war das der Moment, in dem seine Angst begann.
Er schlief mit diesen Gedanken ein, erwachte nachdenklich und fuhr mit dem Bus zu Lindner’s. Er betrachtete das Mädchen auf dem Kalender mit neuem Ernst. Heute erschien ihr Gesichtsausdruck rätselhaft, düster.
»Du bist noch immer in sie verliebt«, stellte Max fest. »Sieh dir doch ihr Gesicht an, Max. Sie weiß etwas.«
»Sie weiß eben, dass du ein Verrückter bist«, sagte Max.
Er vertiefte sich in seine Arbeit. Die größte Überraschung des Tages war ein Anruf von Larry Millstein: eine Entschuldigung für den Zwischenfall auf der Party, und ob er am Nachmittag mal rüberkäme? Sie könnten sich mit Joyce in ihrer Wohnung treffen und dann gemeinsam irgendwo zu Abend essen und Frieden schließen. Tom sagte zu, dann rief er Joyce an, um sich zu vergewissern, dass sie Zeit hatte. »Ich habe schon mit Lawrence gesprochen«, sagte sie. »Ich glaube, er meint es ernst. Außerdem bist du im Augenblick zu beliebt. Dir aus dem Weg zu gehen, das stört mittlerweile bereits sein gesellschaftliches Leben.«
»Sollte ich nett sein? Ist es die Mühe wert?«
»Sei wirklich nett. Er ist neurotisch und kann manchmal sehr gemein sein. Aber wenn er ein totaler Versager wäre, hätte ich sicherlich niemals mit ihm geschlafen.«
»Das beruhigt mich aber.«
»Ihr hört beide gerne Jazz. Unterhaltet euch über Musik. Oder lasst es doch lieber bleiben.«
Er verließ die Werkstatt um sechs Uhr. Es war ein warmer Nachmittag, die Autobusse waren überfüllt. Er beschloss, zu Fuß zu gehen. Das Wetter war schon seit ein paar Tagen sehr schön. Der Himmel war blau, die Luft einigermaßen sauber, und er hatte keinen Grund, sich unbehaglich zu fühlen.
Trotzdem stellte sich das Unbehagen ein, sobald er durch die Tür von Lindner’s auf die Straße trat, und es wurde mit jedem Schritt intensiver.
Zuerst achtete er nicht darauf. Er hatte in den vergangenen Monaten einige neue Erfahrungen gemacht, und ein wenig Paranoia war zu diesem Zeitpunkt wahrscheinlich nichts Besonderes. Aber er konnte das Unbehagen oder die Gedanken, die es hervorrief, nicht verdrängen. Es waren Erinnerungen, die er vernachlässigt hatte: an den Tunnel, an die Maschinenkäfer, an ihre Warnung.
Er dachte an den Geröllhaufen im Keller des Hauses in der Nähe des Tompkins Square. Jemand war vor ihm dort gewesen, jemand, der gefährlich war. Aber Tom hatte diesen Ort erreicht und sicher wieder verlassen, und seine Anonymität war in einer Stadt, die so groß war wie New York, garantiert — oder etwa nicht?
Er redete es sich ein. Dennoch, als er über die Eighth Avenue nach Osten in Richtung von Millsteins Apartment im East Village spazierte, verdichtete sich seine Unsicherheit zur festen Überzeugung, dass er verfolgt wurde. Er blieb auf der Straße vor Millsteins Mietshaus stehen und wandte sich um. Puertoricanische Frauen drängten sich zwischen den Hausaufgängen und den Ladenfronten. Drei Kinder überquerten die Straße an einer Ampel. Zwei weiße Amerikaner waren zu sehen: eine große blasse Frau, die einen Kinderwagen schob, und ein Mann mittleren Alters, der eine braune Papiertüte unter dem Arm hielt. Wer von diesen Personen beobachtete ihn?
Wahrscheinlich niemand. Wahrscheinlich sind es nur meine Nerven, dachte Tom. Und wahrscheinlich auch ein wenig schlechtes Gewissen. Ein schlechtes Gewissen wegen dem, was er zurückgelassen hatte. Ein Schuldgefühl wegen dem, was er gefunden hatte. Weil er sich an diesem seltsamen Ort in jemanden verliebt hatte.
Er trat vom Bürgersteig herunter und direkt vor ein sich näherndes Taxi. Der Fahrer drückte auf die Hupe und wich nach links aus, wobei er ihn nur um wenige Zentimeter verfehlte. UNBEKANNTER MANN ÜBERFAHREN — vielleicht war auch das Geschichte.
Nach einigen verlegenen Höflichkeitsfloskeln zogen sie zu Stanley’s, wo Millstein etwas trank und sich entspannte.
Trotz Joyces Warnung unterhielten sie sich über Musik. Es stellte sich heraus, dass Millstein ein eifriger Jazzfan war, seit er, »als grüner Junge aus Brooklyn«, Ende der Vierzigerjahre hier angekommen war. Er war ein alter Village-Hase. Er hatte Jack Kerouac ein- oder zweimal persönlich getroffen — eine Feststellung, die Tom erneut andächtig staunen ließ. Giganten hatten hier gelebt, dachte er. »Allerdings«, fügte Millstein hinzu, »ist die Szene längst tot.«
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