Ein würdig aussehender Mann kam zu Masao, riß seinen Arm in die Höhe und rief: »Ladies und Gentlemen! Ruhe, bitte!« Die Geräusche der Menge verstummten allmählich. »Dies ist ein großer Tag für uns alle. Unsere Gemeinde ist stolz darauf, das Fitneß-Programm des Präsidenten mitzugestalten. Dies ist schon das dritte Jahr, in dem ich diese Veranstaltung durchführe. Unsere Jugend von heute …«
Der Mann war vermutlich der Bürgermeister des Dorfes, überlegte Masao. Und er nutzte wohl den günstigen Augenblick, sich in der Aufmerksamkeit seiner Zuhörer zu sonnen. Masao hatte keine Ahnung, wovon der Mann redete. Aber er blieb höflich stehen und wartete, bis der Bürgermeister seine Ansprache beendete, bis er endlich fortgehen konnte.
Aber jetzt kam noch eine Überraschung. Als die Rede vorbei war, wandte sich der Bürgermeister Masao zu und sagte: »Und jetzt habe ich, im Namen unserer Bürger, das Vergnügen, dir zur Erinnerung an diesen ruhmreichen Tag einen Scheck zu überreichen.« Und er drückte Masao einen Scheck über hundert Dollar in die Hand. Die waren vom Himmel gesandt.
»Vielen Dank«, stammelte Masao. »Ich … ich …« Das Wörtchen erfreut wollte ihm nicht einfallen. »Ich bin sehr angenehm.« Aus der Menge stiegen Lachen und Beifall auf, und dann liefen die Leute langsam auseinander. Masao betrachtete den Scheck in seiner Hand. Das erste, was er sich kaufen mußte, waren Kleider. Er wandte sich an einen Jungen, etwa in seinem Alter, der Jeans und ein buntes Sporthemd trug.
Masao hielt den Scheck in die Luft und sprach ganz langsam: »Entschuldige, sag mir doch bitte, wo kann ich …«
Er unterbrach sich mitten im Satz, weil ihm das Wort einlösen nicht einfiel. Im stillen verfluchte er sich, daß er im Englisch-Unterricht nicht besser aufgepaßt hatte.
Aber Masao hatte Glück. Der Junge verstand ihn. »Du willst’n einlösen? Da drüben, gleich an der Ecke, ist ’ne Bank. Komm mit. Ich zeig’s dir.«
»Ja.«
»Wo kommst du her?«
»Tokyo.«
»Heh, das ist toll. Ich heiße Jim Dale. Und du?«
»Masao …« Er hielt inne. »Masao Harada.«
»Nett, dich kennenzulernen, Masao.«
Sie waren vor der Bank angekommen. Plötzlich fiel Masao ein, daß er keinen Paß bei sich hatte, überhaupt keine Papiere. Vielleicht würden sie ihm den Scheck nicht einlösen. Er war reich wie ein König, besaß ein Vermögen auf Bankkonten überall auf der Welt, aber er konnte keinen Cent davon lockermachen. Er war arm wie ein Bettler. Dieser Hundert-Dollar-Scheck war das einzige, woran er sich halten konnte.
»Ich komm mit dir rein«, erbot sich Jim Dale.
Dem blonden Jungen machte es anscheinend Spaß, sich im Ruhm seines neuen Freundes zu baden. Sie marschierten in die Bank, und Jim Dale führte Masao zum Kassenschalter.
Er sagte zu der Frau am Schalter: »Hi, Miß Perkins. Mein Freund will einen Scheck einlösen.«
Die Kassiererin schaute Masao an und lächelte: »Ach, Siesindalso derjungederdasrennengewann.«
Masao starrte sie an. Wieder diese verdammte Sprache! »Wie … wie bitte?«
Sie wiederholte: »Siesindalso derjungederdasrennengewann.«
Auf einmal verstand Masao: Sie sind also der Junge, der das Rennen gewann. Er nickte. »Ja, Ma’am.«
Die Kassiererin nahm den Scheck und zählte fünf Zwanzigdollarscheine auf die Theke. Sie schob Masao das Geld zu. »Da haben Sie. Einhundert Dollar.«
Dankbar steckte er das Geld ein. »Vielen Dank.« Jetzt konnte er sich wenigstens Kleidung und Essen kaufen. Er drehte sich nach Jim Dale um. »Ich brauch was zum Anziehen. Weißt du …«
Jim nickte. »Kein Problem. Komm mit.«
Ein paar Minuten später betraten Masao und sein Freund einen Laden.
»Dies ist unser größtes Kaufhaus«, sagte Jim Dale stolz.
»Ist ja toll«, sagte Masao höflich. Es war winzig, verglichen mit den großen Kaufhäusern, die Masao von Japan gewöhnt war. Aber es würde seinen Zweck erfüllen. Jim führte Masao in die Kleider-Abteilung, wo eine Auswahl von Anzügen, Jeans und Hemden an den Stangen hingen. Masao suchte sich ein Paar Jeans und ein Sporthemd aus und probierte die Sachen gleich in der Kabine an. Sie paßten nicht gerade wie angegossen, aber es würde schon gehen. Wenigstens hatte er jetzt wieder etwas anzuziehen.
»Ich behalte sie gleich an«, sagte er zu dem Verkäufer.
Das nächste Problem war – etwas zu essen. »Gibt es eine Pizzeria hier in der Stadt?«
Jim Dale starrte ihn an. »Eine was ?«
Masao dachte, er hätte das Wort vielleicht nicht richtig ausgesprochen. Er wiederholte es, ganz langsam. »Eine Piz-ze-ria.«
Der Junge errötete. »Klar. Wir haben ’ne ganz tolle. Bei Luigi. Ich hab nur gedacht … ich dachte … eßt ihr nicht japanisches Essen?«
Masao lachte. »Jeden Tag. Aber ich mag auch Hamburgers und Hot Dogs und Pizza.«
»Klasse, Mann. Komm mit!«
Bei Luigi war es voll und laut, schwatzende Oberschüler, die lachten und sich viel zu erzählen hatten. Masao kriegte Heimweh. Er war ein Fremder in einem fremden Land, und er hatte niemanden, mit dem er wirklich reden konnte.
Jim Dale sah ihn neugierig an. »Stimmt was nicht?«
Masao zwang sich ein Lächeln ab. »Doch. Alles in Ordnung. Die Pizza schmeckt herrlich.«
»Du kannst aber auch was wegstecken«, sagte der blonde Junge.
»Ich versteh dich nicht.«
»Ich meine, du hast ’n guten Appetit. Schätze, das kommt vom Wettrennen.«
Das Wort Rennen brachte Masao schlagartig in die Wirklichkeit zurück. Eine ganze Weile hatte er seine Probleme vergessen, aber jetzt stürzten sie wieder wie ein Wasserfall auf ihn nieder. Jim würde hinterher, nach dem Essen, nach Hause gehen – zu seiner Familie, wo er geschützt und sicher war. Für Masao gab es nirgendwo Sicherheit. Er mußte weiter fliehen. Je weiter er von der Jagdhütte und seinem Onkel fortkam, desto besser für ihn. Hier war es zu gefährlich für ihn. Es war ein kleines Städtchen, und als Fremder fiel er hier auf. Er mußte in eine große Stadt fahren, wo er in der Menge untertauchen konnte.
»Wie weit ist es bis nach New York City?« fragte Masao.
»Nur ein paar Stunden von hier, mit dem Zug.« Jim Dale schaute auf die Uhr. »In zwanzig Minuten fährt einer.«
Masao würde mitfahren, das stand fest.
Sachiko schaute sich zufällig die Abendnachrichten im Fernsehen an, und so entdeckte sie Masao bei der Siegerehrung nach dem Volkslauf. Sie rief ihren Mann herbei, und beide beobachteten Masao auf dem Bildschirm.
Teruo erinnerte sich gleich, wie er morgens an den Läufern vorbeigefahren war. Also hatte sich Masao doch dort versteckt! So nahe war Teruo daran gewesen, ihn zu erwischen! Er hätte nicht gedacht, daß sich sein Neffe so lange vor ihm verbergen konnte. Immerhin war der Junge ohne Geld und ohne Kleider. Er hatte keine Freunde und wußte nicht, wohin er sich wenden sollte. Es war also nur eine Frage der Zeit, bis man ihn finden würde. Aber Teruo hatte keine Zeit zu verlieren. Er mußte Masao loswerden. Es war an der Zeit, Hilfe einzuschalten.
Da gab es einen Privatdetektiv, von dem Teruo Sato erfahren hatte. Ein schlauer, hartgesottener Profi namens Sam Collins, der für Geld alles machte. Er stand in dem Ruf, rücksichtslos vorzugehen und immer ans Ziel zu gelangen. Das war eine Kombination von Eigenschaften, die Teruo Sato imponierte. Er nahm den Telefonhörer ab und wählte Sam Collins’ Privatnummer.
Masao hatte geglaubt, er werde sich in Manhatten verloren fühlen, aber irgendwie, auf seltsame Art, kam ihm alles vertraut vor. Die großen Gebäude und der Lärm und die Menschenmenge und das Verkehrsgewühl – das alles erinnerte ihn an Tokyo. Und weil Masao viele amerikanische Filme gesehen hatte, erkannte er die Radio City Music Hall, das Empire State Building und das Rockefeller Center gleich wieder. Zum erstenmal, seit er vor seinem Onkel davongelaufen war, fühlte sich Masao ruhiger. Hier in der großen Stadt müßte es beinahe möglich sein, unentdeckt zu bleiben. Er verschwand in der treibenden Menge, zwischen all den Menschen, die durch die Straßen eilten – auf dem Weg zur Arbeit, zu Freunden, zur Untergrundbahn.
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