Dann war nichts mehr.
Langsam wurde Masao wach und schlug die Augen auf. Er war in einem fremden Zimmer. Sein Kopf war schwer und pochte vor Schmerz. Er hatte keine Ahnung, wie lange er bewußtlos gewesen war. Er blieb ganz ruhig liegen und zwang sich, nicht in Panik zu geraten. Er versuchte sich zu erinnern, wie er hierhergeraten war. Er hatte mit dem Polizisten gesprochen, mit Lieutenant Brannigan; sein Onkel und Higashi waren gekommen und hatten ihn ins Auto gezerrt; sie hatten ihm eine Betäubungsspritze verpaßt. Und dann? Masao setzte sich auf dem schmalen Bett auf, und in seinem Kopf begann alles zu kreisen. Er wartete, bis er wieder klar wurde. Vorsichtig stand er auf und schaute sich um, untersuchte das Zimmer. Es hatte keine Fenster, und nach der schrägen Decke zu urteilen, befand er sich auf dem Dachboden der Jagdhütte. Er ging zu der schweren Eichentür und rüttelte an der Klinke. Die Tür war von außen verschlossen. Es gab keinen Ausweg. Und nun merkte Masao auch, daß er nur eine Turnhose und ein T-Shirt anhatte. Sie hatten ihm seine Kleider weggenommen!
So kann ich nirgends hingehen, dachte Masao. Dann kam ihm ein neuer Gedanke, und ein kaltes Frösteln überlief ihn. Seine Kleider lagen wahrscheinlich in einem ordentlichen Häufchen am Ufer des Sees, wo die Polizei sie finden würde – zusammen mit einem gefälschten Abschiedsbrief. Teruo überließ nichts dem Zufall. Mein armer Neffe, er konnte sich nicht mit dem Tod seiner Eltern abfinden …
Masaos Gedanken wurden durch ein Geräusch draußen auf dem Korridor unterbrochen. Irgend jemand näherte sich. Es war bestimmt Higashi, der kam, um ihn zu holen, und Masao wußte, er hatte keine Chance gegen den riesigen, starken Mann. Er sah sich nach einer Waffe um, irgend etwas, womit er sich verteidigen könnte, aber er fand nichts. Er fragte sich, wieviel Teruo dem Chauffeur wohl bezahlte, dafür, daß er ihn umbrachte. Wahrscheinlich ein Vermögen. Aber das war ja eine Kleinigkeit für Teruo. Wenn Masao tot war, würde Teruo unermeßlich reich sein. Die Schritte kamen näher. Masao hörte einen Schlüssel im Schloß drehen und sah, wie die Tür aufschwang. Higashi trat ein. Einen Augenblick dachte Masao daran, sich auf ihn zu stürzen, aber der Chauffeur war viel größer als er und mindestens hundert Pfund schwerer.
»Komm«, knurrte Higashi. »Wir wollen eine kleine Bootsfahrt machen.«
Also hatte er recht gehabt. Mit allem. Und er hatte genau erraten, was sein Onkel plante. Sie würden ihn mitten im See ins Wasser werfen, in die bodenlose Tiefe. Vielleicht würde sein Leichnam niemals gefunden.
Higashi trat auf ihn zu und packte seinen Arm. Ein Griff wie ein Schraubstock. »Geh’n wir.«
Higashi führte den Jungen über den verlassenen Korridor. Sie befanden sich im vierten Stock, unter dem Dach der Jagdhütte. Higashis Finger waren hart wie Stahl, sie drückten sich in Masaos Arm, daß es schmerzte.
»Hören Sie«, sagte Masao verzweifelt. »Wenn Sie mich laufen lassen, will ich Ihnen mehr bezahlen als mein Onkel. Wenn ich wieder in Tokyo bin …«
»Schnauze«, knurrte Higashi.
»Ich kann …«
Higashi packte noch fester zu und stieß den Jungen vor sich her die Treppe hinunter.
Jetzt waren sie im dritten Stock angelangt, und über die Brüstung des Balkons sah Masao in der Ferne den See. Er erschien plötzlich so finster und bedrohlich. In wenigen Minuten, dachte Masao, würde er ein Teil dieses Wassers sein, ertrunken, für immer verloren. Nein, er konnte es nicht zulassen!
Die Zweige einer hohen schlanken Tanne streiften das Balkongeländer, und als Masao das sah, packte ihn eine wilde, verzweifelte Hoffnung. Es gab eine Chance! Es war eine verzweifelt kleine Chance, aber sie war alles, was er hatte. Wenn es mißlang, mußte er sterben. Aber sterben mußte er sowieso.
Masaos Herz schlug schneller. Er wartete, bis sie sich gegenüber dem Balkon befanden, dann tat er so, als würde er stolpern. Als er stürzte, bückte sich Higashi ganz automatisch, um ihn hochzureißen. In diesem Moment stemmte sich Masao mit aller Macht gegen ihn, der eiserne Griff lockerte sich, und Masao sprang auf und rannte auf den Balkon. Er spähte hinunter und sah, zehn Meter unter sich, festen Boden. Falls er stürzte, würde er auf der Stelle tot sein. Aber er hatte keine Wahl. Der Baum war der einzige Weg in die Sicherheit.
Er streckte die Hand aus und packte einen Ast der Tanne. Seine Finger glitten ab, und dann fand er festen Halt und schwang sich zum Stamm hinüber.
In diesem Augenblick spürte er, wie jemand ihn von hinten am Fuß packte und zurückriß. Masao strampelte, aber es hatte keinen Zweck. Higashis mächtiger Arm schlang sich um seinen Hals und würgte ihn. Mit einer letzten Kraftanstrengung warf sich Masao herum und entschlüpfte dem Griff. Keuchend rang er nach Luft. Aber der Chauffeur war schon wieder über ihm, das Gesicht vor Wut verzerrt.
»Dann werd ich dich eben hier umbringen«, zischte er.
Er breitete die Arme aus und tappte vorwärts, um Masao zu packen und zu erdrücken. Masao wich immer wieder aus. Er wußte, diese Arme waren stark genug, ihm das Genick zu brechen. Langsam glitt er nach rechts, weg von dem Baum, und als Higashi ihm folgte, hechtete Masao plötzlich in die entgegengesetzte Richtung, sprang auf die Brüstung und packte erneut den Tannenzweig. Es war sinnlos. Higashi war sofort wieder da, packte ihn wie ein Wilder und riß ihn zurück. Masao spürte, wie seine Finger von dem Ast abglitten. Jetzt war alles aus. Auch Higashi wußte es. Er hatte gesiegt. Aber im Eifer, sein Werk zu vollenden, sprang Higashi auf die Brüstung, neben Masao, um ihn besser packen zu können. Die Brüstung hielt das Gewicht des riesigen Mannes nicht aus und brach plötzlich unter seinen Füßen weg. Masao klammerte sich an den Ast und sah voll Entsetzen, wie Higashis Körper wirbelnd in die Tiefe stürzte. Higashi stieß einen schrillen Schrei aus, dann schlug er auf und lag reglos, den Kopf in unnatürlichem Winkel verrenkt.
Masao hielt inne. Verzweifelt klammerte er sich an den Ast und tat einen tiefen Atemzug, um sich zu beruhigen. Zwischen ihm und dem Grund in der Tiefe war – nichts. Ein Ausrutscher, und er war tot wie Higashi. Langsam und vorsichtig umfaßte Masao den Baumstamm und begann hinabzuklettern, immer Ast um Ast, obwohl alles in ihm zur Eile drängte. Sein Onkel konnte Higashis Schrei gehört haben und jede Sekunde auftauchen. Er war eine hilflose Zielscheibe, wie er da zwischen Himmel und Erde hing. Aber Masao zwang sich, vorsichtig weiterzuklettern. Jeden Ast prüfte er, bevor er sich ihm anvertraute. Endlich, es schien Jahrhunderte zu dauern, war der Boden nicht mehr weit, und er sprang ab. Dann lag er im Gras, unfähig, sich zu bewegen, nach Atem ringend. Jeder Muskel seines Körpers schmerzte. Am liebsten wäre er für immer auf der kühlen Erde liegengeblieben. Aber er wußte, er mußte fort, und zwar rasch.
Aber wohin? Er wußte nicht, wohin er gehen sollte. Zu Lieutenant Brannigan konnte er nicht zurück. Der würde nur wieder seinen Onkel anrufen, damit er kam und ihn holte. Und jetzt war da ein Toter. Sie würden ihm die Schuld geben.
Masao stand in der Dunkelheit, fröstelnd in seinem Unterhemd, und dachte nach. Er hatte kein Geld und keine Kleider, und sein Leben war in Gefahr. Plötzlich flammte oben im Haus ein Licht auf. Masao drehte sich um und rannte blindlings hinaus auf die Straße – nach nirgendwo.
Am Himmel stand ein strahlend heller Vollmond, und Masao nutzte sein Licht, um sich am Rand der Straße zu halten. Er fragte sich, was droben in der Hütte passiert sein mochte. Hatte Teruo bereits Higashis Leiche entdeckt? Suchte er schon nach Masao? Wie eine Antwort auf seine Fragen hörte er ein Auto brummen. Rasch suchte Masao hinter den Büschen Deckung. Eine Sekunde später rollte die vertraute Limousine langsam um die Kurve. Am Steuer saß Teruo; seine Augen suchten den Randstreifen zu beiden Seiten der Straße ab. Masao duckte sich tiefer ins Gebüsch und wartete, bis das Auto vorbei war. Erst als er das Surren des Motors nicht mehr hörte, verließ Masao sein Versteck und lief auf der Straße weiter. Zehn Minuten später hörte er das Motorengeräusch sich wieder nähern und sprang erneut in Deckung. Er beobachtete, wie sein Onkel in Richtung der Jagdhütte verschwand. Vielleicht glaubte er, daß Masao sich noch irgendwo im Park versteckte. Der Junge beschleunigte seine Schritte.
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