Als Masao das Städtchen Wellington erreichte, machte er einen Umweg, damit niemand ihn entdeckte. Den Fehler, zur Polizei zu gehen, würde er nicht wiederholen. Zum hundertstenmal überlegte er, wohin er gehen sollte. Das war schlimmer, als verirrt zu sein: er hatte überhaupt kein Ziel.
Der Kampf mit Higashi hatte ihn erschöpft, und Masao brauchte dringend eine Verschnaufpause. Aber er wußte, er mußte weiterlaufen. Wenn er eine Pause machte, konnten sie ihn erwischen, und er wußte, was das bedeutete. Es bedeutete den Tod. Also zwang er sich, weiterzulaufen, die ganze Nacht hindurch, immer einen Schritt nach dem anderen. Und jeder Schritt trug ihn weiter von seinem Onkel weg, entfernte ihn von der Gefahr.
Das lodernde Feuer, das Masao die Kraft gab weiterzulaufen, war seine Wut auf Teruo. Dem Onkel war es ganz egal, ob die Eltern ein angemessenes Begräbnis bekamen. Es ging ihm nur darum, die Firma an sich zu reißen, die Masao gehörte. Aber Masao war entschlossen, seinen Eltern das Begräbnis zu verschaffen, das sie verdienten. Irgendwie würde er ihre Asche nach Japan zurückbringen. Er wußte nicht, wie er es schaffen sollte. Er wußte nur, er würde es schaffen – oder sterben.
Die Nachtluft war kühl, und Masao begann in seinem T-Shirt zu frösteln. Es gab keine Möglichkeit, sich Kleider zu besorgen; keine Möglichkeit, sich aufzuwärmen. Er lief an verschlafenen Farmhäusern vorbei und dachte neidisch an die Menschen, die dort drinnen warm und gemütlich schliefen. Er fragte sich, wie lange er so weiterlaufen konnte. Die Zukunft lag finster vor ihm. Selbst wenn er jemanden fand, dem er seine Geschichte erzählen konnte, stand doch sein Wort gegen das Wort seines Onkels, und sein Onkel war ein Mann von hoher Stellung und großer Wichtigkeit. Sein Onkel hatte – wie sagte man gleich in Amerika? – Prestige. Lieutenant Brannigan hatte Masao nicht geglaubt. Niemand würde ihm glauben. Masao fühlte sich in einem Alptraum gefangen, aus dem es keinen Ausweg gab.
Ganz früh am nächsten Morgen fand sich Masao am Rand eines kleinen Städtchens wieder. Auf der Hauptstraße drängte sich eine Menschenmenge, und einen schrecklichen Augenblick dachte Masao, sie wären hinter ihm her. Aber die Menschen unterhielten sich nur und lachten. Irgendwie herrschte eine festliche Stimmung. Neugierig schlich sich Masao näher und blieb am Rand der Straße in Deckung, um zu beobachten, was da vor sich ging.
Es waren mindestens zwei Dutzend Männer, alle in Turnhose und T-Shirt gekleidet – genau wie er. Sie standen auf der Mitte der Straße, und andere Leute, alle in normaler Kleidung, drängten sich herbei. Verwundert starrte Masao hinüber, unfähig, sich vorzustellen, was da los sein mochte. Jetzt schob sich ein Mann durch die Menge und band den Männern Nummernschilder am Rücken fest – und jetzt begriff Masao endlich. Es war ein Volkslauf! Einen Moment hatte Masao Lust, mitzumachen. Er war genauso gekleidet wie die anderen, und es wäre eine perfekte Tarnung. Aber er wußte, daß er zu müde war. Er war völlig ausgepumpt, seelisch wie körperlich. Er war die ganze Nacht gelaufen und hatte einfach keine Kraft mehr. Er beschloß also zu warten, bis die Menschenmenge sich verlaufen hatte. Dann wollte er weitermarschieren.
Aber im gleichen Moment passierte etwas, das Masao zwang, es sich anders zu überlegen. Dort hinten, auf der Straße, kam die Limousine seines Onkels herangeschlichen. Die Flucht war doch nicht geglückt! Jeden Augenblick konnte er entdeckt werden!
Mit einem Sprung schlüpfte Masao zwischen die Gruppe der Männer in Turnhosen und Unterhemden.
Der Funktionär, der die Nummern verteilte, schaute Masao scharf an und sagte: »Beinah wärst du zu spät gekommen. Wir sind längst startbereit.«
Im nächsten Moment hatte auch Masao eine Nummer auf dem Rücken. Die Läufer nahmen Aufstellung, bereit für den Startschuß. Masao schob sich noch mehr in die Mitte, um sich zu verstecken. Er hatte gar nicht die Absicht, sich an dem Rennen zu beteiligen. Er wollte nur in der Menge Schutz suchen, bis sein Onkel fort war. Aber als der Starter jetzt die Pistole in die Luft hob, um das Startzeichen zu geben, sah Masao die schwarze Limousine direkt auf die Gruppe der Läufer zufahren. Dann kam der scharfe Knall der Pistole, und Masao rannte mit den anderen los – immer schön in der Mitte.
Als die Limousine an den Läufern vorbeischnurrte, zog Masao den Kopf ein. Langsam rollte die Limousine weiter. Masao war noch erschöpft von der langen Nacht, aber er hatte Angst, aus dem Feld der Läufer auszuscheren, weil sein Onkel jeden Moment zurückkehren konnte. Seine einzige Sicherheit bestand darin, die anderen als Tarnung zu benutzen. Und so machte sich Masao auf einen langen Wettlauf gefaßt. Er lief mit weit ausgreifenden, leichten Schritten, und weil er jung und kräftig war, fand er bald den richtigen Rhythmus. Dann begann er sich die anderen Konkurrenten anzusehen. Manche waren älter als er, aber viele waren ungefähr in seinem Alter. Masao fragte sich, was wohl der Anlaß dieses Laufes sein mochte, ob er jedes Jahr veranstaltet wurde und was hinterher passieren würde. Aber das alles war jetzt unwichtig. Das einzig Wichtige war: solange er mit den anderen lief, als einer unter vielen, war er in Sicherheit. Die anderen waren sein Schutz und seine Deckung.
Allmählich spürte er seine alte Kraft wieder, und seine Beine liefen wie von selbst. Er legte etwas Tempo vor und überholte den einen oder anderen Läufer. Er war sich nicht sicher, wie er seine Kräfte einteilen sollte, denn er wußte nicht, wie lang die Strecke war. Es konnten fünf Kilometer sein oder auch zehn. Aber darüber, fand Masao, konnte er sich später Sorgen machen. Unaufhaltsam schob er sich vor, und bald lag wieder eine ganze Gruppe von Läufern hinter ihm. Er fing an, die frische Morgenbrise in seinem heißen Gesicht und die freie, leichte Bewegung seines Körpers zu genießen. Er blickte auf und entdeckte, daß nur noch ein halbes Dutzend Läufer vor ihm lagen. Wieder legte er Tempo zu, und dann waren nur noch fünf vor ihm, dann vier … und drei … Und Masao zog mit den beiden Läufern an der Spitze gleich. Sie begannen ihr Tempo zu beschleunigen, und Masao mußte kämpfen, um mit ihnen Schritt zu halten. Sein Herz pochte und seine Lungen brannten. Er war sich nicht sicher, ob er durchhalten würde. Es gab keinen Grund, warum er dies Rennen gewinnen sollte, es bedeutete ihm nichts. Und doch – er wußte, er mußte weitermachen. Es war eine Frage des Stolzes. Nachdem er zum Wettlauf angetreten war, mußte er ihn auch gewinnen. Der Zweitbeste wollte er nicht sein.
Also begann Masao noch schneller zu laufen, seine Arme und Beine pumpten wie die Kolben einer Maschine. Und nach ein paar Sekunden hatte er die Spitze erobert. Jetzt machte die Straße eine Kurve, und dort vorne lag ein Dorf. Quer über die Hauptstraße war ein Transparent gespannt: ZIEL.
Masao spürte, daß die beiden anderen Läufer aufholten, aber er rang sich noch einen letzten Spurt ab – und überquerte die Ziellinie vor ihnen. Auf einmal war er von einer Menschenmenge umringt, und alles war ein einziges aufgeregtes Durcheinander. Die Leute schüttelten ihm die Hand und gratulierten ihm, aber sie sprachen so schnell, daß er nicht verstand, was sie sagten.
»Schau her!« rief eine Stimme. Masao hob den Kopf und blickte in die Kameralinse eines Reporters, der ihn fürs Fernsehen filmte.
Es war unwirklich, wie ein Traum. Die Leute klopfen ihm den Rücken, legten ihm die Hand auf die Schulter.
»Du könntest bei der Olympiade starten …«
»Ich wette, du hast ’n Rekord gebrochen …«
»Bist du hier aus der Gegend …?«
Sie behandelten ihn alle, als wäre er so was wie ein Held. Anscheinend war es ein wichtiges Rennen für sie. Na, immerhin war es auch für ihn wichtig gewesen. Es hatte ihm das Leben gerettet. Er wünschte nur, die Leute würden etwas langsamer sprechen, damit er verstehen konnte, was sie sagten.
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