»Ich dachte, vielleicht könnten wir zusammen Kaffee trinken«, sagte sie. Masao schaute sie nachdenklich an. Er wollte schon ablehnen, aber die Versuchung war zu überwältigend.
»Herzlichen Dank«, sagte er höflich und nahm sich eine Kaffeetasse und einen Doughnut. Er wartete, bis Sanae in ihr Gebäckstück gebissen hatte, und führte dann erst seines an den Mund. Es war das beste, was er je gekostet hatte. Er wollte es verschlingen, aber er beherrschte sich. Er nahm einen Schluck Kaffee, und die heiße Flüssigkeit, die ihm durch die Kehle rann, schmeckte ebenfalls herrlich.
So saßen die beiden beieinander, aßen und tranken schweigend, und Sanae musterte Masao. Er hatte eine Intensität an sich, die sie noch nie an einem anderen Menschen beobachtet hatte. Er schien freundlich und offen, und doch spürte Sanae gleichzeitig, daß er ein sehr in sich gekehrter Mensch war.
»Woher kommst du?« fragte sie.
Masao zögerte einen kurzen Augenblick. »Tokyo«, sagte er dann. Sie würde niemals die Personalakte sehen, in der Chicago stand.
»Meine Eltern stammen aus Tokyo«, sagte Sanae.
»Bist du schon mal in Japan gewesen?«
»Nein.«
Masao seufzte, und ein bittersüßes Heimweh beschlich ihn. »Es ist das schönste Land der Welt.« Er fragte sich, ob er es jemals wiedersehen würde, ob er jemals seine Heimat wieder betreten würde.
»Das ist es sicherlich«, sagte Sanae. »Eines Tages hoffe ich hinzufahren.« Sie fragte: »Bist du mit deiner Familie hier?«
Wieder zögerte Masao. Er wollte sie nicht anlügen, aber die Wahrheit war zu gefährlich. »Ja«, sagte er. Und in einem gewissen, schrecklichen Sinn stimmte es. Seine Mutter und sein Vater waren bei ihm, sie waren auf ihn angewiesen. Sie würden keinen Frieden finden, solange er ihnen kein angemessenes Begräbnis verschaffen konnte.
Er schaute Sanae an und hatte ganz stark das Gefühl, daß sie beide sehr gute Freunde werden könnten. Nein, mußte sich Masao ehrlich sagen, mehr als gute Freunde. Aber es durfte nicht sein. Solche Träume waren für andere da, nicht für ihn. Er durfte nur an eines denken: ans Überleben.
Das Klingeln der Glocke bedeutete das Ende der Kaffeepause.
An diesem Abend konnte Masao sein Geldproblem lösen. In einer kleinen Nebenstraße, nicht weit von seinem Hotel, hatte er ein Pfandhaus entdeckt – mit drei Eisenkugeln über der Tür. Der einzige Wertgegenstand, den Masao besaß, war die goldene Uhr, die sein Vater ihm zum achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Sie war aus 21 karätigem Gold, aber für Masao lag ihr wahrer Wert in der Tatsache, daß sie ein Geschenk seines Vaters war. Nie im Traum wäre ihm eingefallen, sich von ihr zu trennen; aber jetzt hatte er keine andere Wahl. Er zögerte noch ein paar Minuten, dann ging er hinein und legte die Uhr auf die Theke.
»Dafür möchte ich Geld borgen«, sagte Masao. »Eines Tages komme ich wieder, um sie zu holen.« Wenn alles gutgeht, dachte er. Und wenn nicht – dann wäre er im Gefängnis oder tot, und es wäre auch egal.
Der Pfandleiher hob die Uhr auf und untersuchte sie mit einer Juwelierslupe. Er nickte wohlgefällig. »Eine schöne Uhr. Wieviel wollen Sie dafür aufnehmen?«
»Fünfhundert Dollar.«
Der Mann schüttelte den Kopf. »Zuviel.«
»Dreihundert Dollar.«
»Zweihundertfünfzig.«
»Einverstanden«, sagte Masao.
Das war mehr als genug, um mit dem Bus nach Kalifornien zu fahren. Lange hatte er nachgedacht, was er nun tun sollte, und war immer wieder zu einem Ergebnis gekommen: die Antwort auf sein Problem lag in Los Angeles, bei Kunio Hidaka.
Der Pfandleiher zählte das Geld auf die Theke und reichte Masao ein Stück Papier. »Das ist Ihr Pfandschein. Sie haben sechs Monate Zeit, ihn einzulösen. Danach verkaufe ich die Uhr.«
Sechs Monate! Masao war sich nicht mal sicher, ob er noch sechs Tage am Leben blieb. »Danke«, sagte er. »Ich komme wieder.«
Er warf einen letzten Blick auf seine Uhr. Dann steckte er das Geld ein und ging.
Masao machte sich auf den Weg zu einem japanischen Restaurant, das ein paar Straßenblocks von seinem Hotel entfernt war. Er mußte sich beherrschen, nicht loszurennen. Der bloße Gedanke an Essen ließ ihm die Spucke im Mund zusammenlaufen.
Er setzte sich, ganz schwach vor Hunger, und bestellte. Dann stopfte er sich voll mit Miso-Suppe und Onkatsu und Reis und Gemüse und zwei Portionen Krabben-Tempura … und frischem Obst als Nachtisch. Als Masao seine Mahlzeit beendet hatte, fühlte er sich wie ein neuer Mensch, bereit, es mit der ganzen Welt aufzunehmen.
Die nächsten Tage verliefen ruhig; so ruhig, daß Masao beinahe die Gefahr vergaß, in der er schwebte. Jeden Tag las er aufmerksam die Zeitung. Die Story, wie er den Chauffeur ermordet hatte und geflüchtet war, verschwand von der Titelseite auf die zweite Seite und schließlich in den Lokalteil der Zeitung. Masao atmete auf. Er hatte nicht mehr das Gefühl, im Lichte der Suchscheinwerfer zu stehen. Die Polizei hatte andere Dinge zu tun. Und Teruo würde es bald leid sein, ihn zu suchen.
Jeden Morgen stand Masao zeitig auf, frühstückte in einem kleinen Café in der Nähe seines Hotels und ging dann zur Arbeit. Jedesmal, wenn er die Matsumoto-Fabrik betrat, hatte er ein stolzes Gefühl. Er fühlte sich seinem Vater nah. Aber es gab noch einen anderen Grund, warum sich Masao auf die Arbeit freute – Sanae. Er dachte an sie am Abend, wenn er fern von ihr war. Er liebte es, neben ihr am Fließband zu stehen und sie bei der Arbeit zu beobachten.
Ihr fröhliches »Guten Morgen« war für Masao die schönste Art, den Tag zu beginnen. Sie schwatzten fröhlich miteinander, wenn der Vorarbeiter nicht herschaute, und sie hatten sich angewöhnt, die Mittags- und Kaffeepausen miteinander zu verbringen. Je öfter er Sanae sah, desto besser gefiel sie Masao.
Sie erzählte ihm von ihrer Familie. »Mein Vater und meine Mutter kamen in dieses Land, kurz bevor ich geboren wurde.«
»Darf ich fragen, was dein Vater von Beruf ist?«
»Er ist Kunstmaler.« Sanae verbesserte sich. »Er war Kunstmaler. Er kann nicht mehr malen, weil er Arthritis hat.«
»Ist das der Grund, warum du hier arbeitest?«
»Ja. Meine Eltern haben nur mich. Eigentlich wollte ich Medizin studieren. Vielleicht kann ich eines Tages doch noch zur Universität.« In ihrer Stimme war keine Spur von Selbstmitleid.
»Gefällt dir die Arbeit hier?« fragte Masao.
»Sehr. Außer, daß …« Sie deutete mit dem Kopf zum Vorarbeiter hinüber. »Er ist kein guter Mensch.«
»Das finde ich auch. Ohne ihn wäre es hier viel angenehmer.«
»Erzähl mir etwas von dir«, bat Sanae.
Es war eine so harmlose Frage. Und eine so gefährliche. Einen übermütigen Augenblick lang war Masao in Versuchung, ihr alles zu erzählen. Er sehnte sich verzweifelt nach jemandem, mit dem er sprechen, dem er sich anvertrauen konnte. Aber er wußte natürlich, daß es unmöglich war.
Also sagte Masao vorsichtig: »Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich interessiere mich für Elektronik. Ich dachte, hier könnte ich etwas lernen.«
Sanae schaute ihn verwundert an. »Ich habe dich beobachtet.«
»Oh?«
Sie blickte ihm in die Augen. »Du brauchst nichts mehr zu lernen.«
»Ich …« Die Versuchung, Sanae die Wahrheit zu sagen, war überwältigend, aber Masao wußte, daß er nicht nachgeben durfte. Um ihretwillen. Es war zu gefährlich. Noch wußte er nicht, wie er mit Teruo fertig werden sollte.
Jetzt hatte Masao ein neues Problem. Er wollte so gern mit Sanae ausgehen, sie zum Essen und ins Kino ausführen oder in eine Disko. Nur traute er sich nicht. Er hatte Angst, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen, denn es bestand immer die Möglichkeit, daß jemand ihn erkannte. Und er wollte Sanae nicht in seine Schwierigkeiten hineinziehen.
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