»Sind sie schon fort?« flüsterte Masao.
Sanae spähte zur Tür gegenüber, wo die beiden Männer gerade verschwanden. »Sie sind fort.«
Langsam stand Masao auf. Er war schweißgebadet.
»Hast du irgendwelche Probleme?« fragte Sanae freundlich.
Er hatte schlimmere Probleme, als sie sich vorstellen konnte! »Nein«, sagte Masao. »Ich hatte … es war nur ein Mißgeschick.«
Sogar für seine Ohren klang die Ausrede schwach. Sanae schaute ihn wortlos an, ihre sanften braunen Augen boten ihm Hilfe und Freundschaft an.
Masao zwang sich, weiterzuarbeiten, aber das falsche Gefühl der Sicherheit, das er gehabt hatte, war verschwunden. Statt dessen empfand er nackte Wut. Teruo Sato machte die Runde durch sein neues Firmenimperium und tat so, als gehöre es ihm. Und es würde ihm gehören, wenn Masao erst aus dem Weg geräumt war. Masao fühlte sich hilflos wie noch nie im Leben.
Jedesmal, wenn die Tür aufging, schaute er sich gehetzt um. Teruo konnte jeden Moment wiederkommen. Sanae bemerkte Masaos merkwürdiges Verhalten, aber sie sagte nichts. Sie beobachtete ihn und hoffte, daß er ihr etwas erklären würde. Sie wollte ihm helfen, aber sie schwieg. Er spürte, daß sein Schweigen sie verletzte, aber er konnte nichts dagegen tun. Dies war sein Problem, ganz allein seines.
Teruo kam an diesem Nachmittag nicht wieder, auch nicht am nächsten Tag oder am übernächsten, und Masao konnte wieder freier atmen. Es war nur ein kurzer Kontroll-Besuch in der Fabrik gewesen. Teruo hatte offenbar keine Ahnung, daß Masao hier war. Und es war unwahrscheinlich, daß Teruo noch einmal zurückkehren würde. Irgendwie, dachte Masao, kann ich mich sicherer fühlen als vorher.
Am Freitag war Zahltag. Er würde seinen Lohn abholen und sich auf den Weg nach Kalifornien machen. Der Gedanke, Sanae zu verlassen, tat ihm weh. Er wußte, sie würde ihm sehr fehlen. Und er mußte ohne ein Wort der Erklärung verschwinden, wie ein Dieb in der Nacht. Vielleicht, eines Tages, konnte er es ihr erklären. Falls er am Leben blieb.
Am Freitagnachmittag, nach Feierabend, stellten sich die Arbeiter in einer langen Reihe vor dem Kassenschalter auf, um ihren Wochenlohn in Empfang zu nehmen. Sanae stand ganz vorne. Masao stand ein paar Plätze hinter ihr. Er sah, wie jemand Sanae einen Umschlag mit ihrem Lohn in die Hand drückte – und ein Blatt Papier. Sie starrte auf das Papier und wurde blaß.
Rasch drehte sie sich um, lief auf Masao zu und flüsterte ihm ins Ohr: »Du mußt von hier verschwinden!«
Er starrte sie erschrocken an. »Was?«
»Schnell. Komm mit.«
Sie drehte das Blatt Papier in der Hand, so daß Masao es sehen konnte. Es war sein Foto, mit einer Überschrift, die besagte: GESUCHT! HOHE BELOHNUNG! Dieser Zettel wurde an alle Arbeiter in der Fabrik verteilt.
Sanae packte Masao am Arm. So natürlich wie möglich versuchten die beiden sich umzudrehen und schlenderten auf eine Seitentür zu, die auf den Hof hinausführte. Masaos erster Gedanke war, davonzurennen, aber er wußte, daß dies sein Untergang wäre. Er hatte die ganze Woche mit diesen Leuten zusammengearbeitet. Sie kannten alle sein Gesicht. Jeden Augenblick konnten sie ihn wiedererkennen. Er zwang sich, langsam zu gehen, und rechnete jeden Moment damit, eine Stimme schreien zu hören: Da ist er! Haltet ihn! Aber sie erreichten die Tür und waren vorläufig in Sicherheit.
»Ich muß dich hier verlassen«, sagte Masao atemlos. Er hatte keine Ahnung, wo er sich verstecken konnte. Er war sicher, daß Teruo sein Foto in jeder Matsumoto-Fabrik des Landes verteilen ließ. Jetzt gab es keinen Ort mehr, wo er sicher war.
»Wohin willst du gehen?«
»Ich weiß nicht.«
Sie gingen über den Hof, weg von der Fabrik.
»Ich nehme dich mit nach Hause«, sagte Sanae. »Dort werden sie dich niemals suchen.«
Masao schüttelte den Kopf. »Ich kann dich da nicht hineinziehen.«
Sanae sagte schlicht: »Ich stecke schon drin.«
Masao schaute sie an und verstand kein Wort. Zu sehr kreisten seine Gedanken um die Frage des Überlebens.
»Bitte, komm mit mir.«
»Nein.« Masao blieb vor ihr stehen. Jetzt war es Zeit, die Wahrheit zu sagen. »Ich werde von der Polizei gesucht.« Er holte tief Luft. »Wegen Mordes.«
Sie musterte ihn eine Weile. »Bist du schuldig, Masao?«
»Nein.«
Sanae lächelte. »Das hab ich auch nicht geglaubt.« Sie nahm seine Hand. »Gehen wir.«
Sanae wohnte mit ihren Eltern in einem alten Apartmenthaus, eine Meile von dem Hotel entfernt, wo Masao abgestiegen war. Die Wohnung war klein, hübsch eingerichtet und sauber, und überall sah man japanische Kunstgegenstände. An den Wänden hingen wunderschöne Landschaftsgemälde, und Masao erinnerte sich, daß Sanae gesagt hatte, ihr Vater sei Kunstmaler.
Sanaes Eltern saßen im Wohnzimmer, als Sanae und Masao hereinkamen. Mr. und Mrs. Doi waren schon viele Jahre in Amerika, aber Masao hatte das Gefühl, daß sie noch immer an den japanischen Traditionen festhielten. Als Masao ihnen vorgestellt wurde, verneigten sie sich mit altmodischer Höflichkeit. Masao fand, daß Sanae ganz wie ihre Mutter aussah, die immer noch eine schöne Frau war und eine zierliche Figur hatte. Sanae würde, wenn sie alt war, genauso hübsch aussehen. Als Masao die beiden betrachtete, war es ihm, als blicke er in einen Spiegel der Zukunft. Mr. Doi war ein schmächtiger Mann mit einem hageren, sensiblen Gesicht. Masao bemerkte seine gichtknochigen Hände und dachte, wie schade es war, daß er nicht mehr diese wunderschönen Bilder malen konnte.
Sanae sagte zu ihren Eltern: »Mein Freund, Masao, hat Schwierigkeiten, aber es ist nicht seine Schuld.« Zu Masao gewandt, sagte sie: »Erzähle es ihnen.«
Jetzt saß Masao in der Falle. Er konnte es ihnen nicht erzählen – nicht die Wahrheit. Er konnte nicht zugeben, daß er Masao Matsumoto war, denn es hätte seine Seele mit Scham erfüllt, vor Fremden über die dunklen Vorgänge zu sprechen, die sich in seiner Familie abspielten. Es war eine rein private Angelegenheit.
Sie schauten ihn erwartungsvoll an. Sanae vertraute ihm, und er würde sie wieder anlügen müssen – und auch ihre Eltern. Sie würde ihm nie wieder vertrauen können. Es schmerzte Masao mehr, als er sich vorstellen konnte, aber es blieb ihm keine andere Wahl. Er versuchte, sich an die Geschichte zu erinnern, die er Sanae früher einmal erzählt hatte. Lieber an einer alten Lüge festhalten, als sich in ein Netz neuer Lügen zu verstricken.
»Ich bin mit meinen Eltern nach Amerika gekommen«, sagte Masao. »Es war eine kurze Geschäftsreise, und wir wollten gleich wieder nach Tokyo zurückkehren. Aber mir gefiel dieses Land so gut, und ich sagte meinem Vater, daß ich hierbleiben wollte. Wir kriegten einen furchtbaren Streit, und ich lief fort.« Masaos Gedanken überstürzten sich, während er seine Geschichte erfand. »Mein Vater heuerte einen Mann an, der mich zurückbringen sollte. Wir hatten einen Kampf, der Mann glitt aus und stürzte vom Dach. Er starb. Darum sucht mich die Polizei.«
Es entstand ein langes Schweigen. Endlich sagte Sanaes Vater: »Hmmm … welch ein Pech. Du hattest nichts zu tun mit dem Tod des Mannes?«
»Nein, Sir. Nichts. Es war ein Unfall.« Dies letzte, wenigstens, war die Wahrheit.
»Dann mußt du zur Polizei gehen und alles aufklären.«
Masao schüttelte den Kopf. »Wenn ich das tu, Sir, wird mein Vater mich zwingen, nach Japan zurückzukehren.«
Mr. Doi warf seiner Tochter und seiner Frau einen langen Blick zu und sagte: »Darüber müssen wir sorgfältig nachdenken.«
Zur gleichen Zeit herrschte im Büro des Personalchefs in der Matsumoto-Fabrik große Aufregung. Watkins, der Personalchef, und der Vorarbeiter Heller sprachen mit Sam Collins, dem Privatdetektiv, den Teruo angeheuert hatte, um Masao aufzuspüren. Die drei Männer betrachteten Masaos Foto.
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