Trotz des sibirischen Sommers zeigte das Thermometer kaum über 15 Grad Celsius, und obwohl der Empfang mit einem Komitee der örtlichen Honoratioren im frisch herausgeputzten Rathaus geradezu pompös wirkte, glaubte Viktoria, nie einen trostloseren Ort gesehen zu haben. Daran konnte auch der höchst gewöhnungsbedürftige Cocktail aus zuckersüßem Birkensaft und Wodka nichts ändern, der, mit einer aufgespießten kandierten Kirsche versehen, von ein paar sichtlich ungeübten jugendlichen Kellnerinnen als Begrüßungstrunk serviert wurde.
Etwa vierzig Menschen bevölkerten den spartanisch eingerichteten Raum. Ein älterer Russe, füllig und mit einem grauen Bart, begrüßte Professor Rodius aufs Herzlichste. Bei näherem Hinhören stellte er sich als Professor Vladimir Olguth vor; er war der wissenschaftliche Leiter der Gesandtschaft der Universität Moskau, mit deren Mitarbeitern, bestehend aus fünf Wissenschaftlern und fünf Studenten, man in den nächsten Wochen eng zusammenarbeiten wollte. Darüber hinaus hatten sich auch einige Journalisten und gut zwanzig geladene Honoratioren der örtlichen Bevölkerung eingefunden.
Die eigentliche Ansprache hielt Uljan Uljanowitsch, der Bürgermeister von Vanavara. Von einem improvisierten Podium aus zwei hellen Lärchenholztischen, die man am Ende des Raumes aufgebaut hatte, sprach er viel zu hektisch zu den anwesenden Gästen, nur unterbrochen von einem nervösen Lächeln, das in einem eigentümlichen Kontrast zu seinen düsteren Brauen und seinen strengen Gesichtszügen stand. Vor ihm hatte man die russische, die deutsche und die blauweiß-blaue Flagge der Ewenken mit ihrer leuchtend roten Sonne aufgestellt - ausgerechnet in einer leeren Wodkaflasche. In einer kurzen Zwischenbemerkung bedauerte Uljanowitsch, der selbst russischer Abstammung war, dass der gewählte Stammesvertreter der hier lebenden ewenkischen Urbevölkerung leider verhindert sei.
Theisen konnte sich gegenüber Viktoria während des ausgiebigen Begrüßungszeremoniells nicht zurückhalten. Immer wieder machte er leise, abfällige Bemerkungen über das Wetter, über die schlechte Infrastruktur und die seiner Meinung nach altmodisch aufgerüschte Gattin des Bürgermeisters. Auch die verschiedenen Getränke, die immer wieder herumgereicht wurden, schienen nicht seinem Geschmack zu entsprechen. Nachdem er sich für einen Moment zur Toilette verabschiedet hatte, nutzte Viktoria die Situation klammheimlich zur Flucht in eine abgeschiedene Ecke der kleinen Empfangshalle und angelte sich im Vorbeigehen ein Glas Granatapfelsaft von einem Tablett, des einzig antialkoholische Getränk.
Plötzlich tauchte ein rothaariger Mann neben ihr auf. Er mochte kaum älter als fünfundzwanzig sein und war nicht das, was man als schön hätte bezeichnen können. Seine gedrungene, breitschulterige Erscheinung glich der eines zu kurz geratenen Boxers. Jedoch sein Grinsen war schelmisch. Seine eckigen Zähne standen auf Lücke, was ihm zusammen mit den vielen Sommersprossen in seinem pausbäckigen Gesicht ein spitzbübisches Aussehen verlieh. Er begann sofort auf Russisch auf sie einzureden; eine Sprache, die sie recht gut beherrschte, hatte sie doch nach ihrem Abitur ein paar Semester russische Literatur studiert.
»Mein Name ist Kolja Biborow«, stellte er sich kauend vor, nachdem er eines der angebotenen Kaviarschnittchen in einem Stück in den Mund genommen hatte. »Ich bin euer Tourist-Guide«, erklärte er fröhlich und benutzte tatsächlich dieses englische Wort. Dabei wusste Viktoria nur zu gut, dass die ihnen bevorstehende Arbeit wenig mit einem touristischen Vergnügen gemein haben würde.
»Viktoria Vanderberg«, gab sie zurück und bot ihm zum Gruß ihren ehrlich gemeinten Händedruck an. »Du bist also für die Animation verantwortlich, wenn ich das richtig verstehe«, ergänzte sie scherzend.
»Ich hoffe, da machst du dir nicht allzu viel Hoffnung« gab er amüsiert zurück. »Animation bedeutet in Sibirien nicht mehr als Wodka plus Wodka. Das reicht uns, um lustig zu sein. Und um es gleich zu sagen«, fügte er schmunzelnd hinzu, »ich habe für heute Abend ein Begrüßungs-Event organisiert. Wir haben die Party >Fireball< getauft, weil sie draußen im Camp stattfindet und uns hoffentlich mehr einheizt als dieser langweilige Meteor, von dem niemand so genau weiß, ob es ihn wirklich gab.«
Na, das kann ja heiter werden, sinnierte Viktoria, und ob Professor Rodius von dieser Entwicklung begeistert sein würde, blieb abzuwarten.
Mit der anfänglichen Euphorie des Professors, die er noch am Flughafen in Berlin aufgebracht hatte, schien es ohnehin bergab zu gehen -spätestens als ein weißer Helikopter landete und kurz darauf ein Tumult an der Eingangstür der kleinen Halle entstand. Aus einem Pulk von vier durchtrainierten Leibwächtern in Business-Anzügen trat ein Mann heraus, der absolut nicht in diese kärgliche Umgebung passte.
»Wer, zum Teufel, ist das?«, flüsterte Viktoria ihrem russischen Animateur ins Ohr und bekam die verhaltene Antwort, dass es sich bei dem umschwärmten Neuankömmling um einen der reichsten Männer
Russlands handelte, den man besonders zuvorkommend behandeln müsse, da er die gesamte Expedition aus seiner millionenschweren Privatschatulle sponsere.
Sergej Sergejewitsch Bashtiri - wie er sich lautstark vorstellen ließ -trug einen weich schimmernden Mantel aus kostbarem Zobel, den er trotz der vergleichsweise warmen Witterung wie einen Umhang über dem teuren Maßanzug drapiert hatte. Anfang fünfzig, schlank, das Gesicht aalglatt rasiert und sonnengebräunt, bewegte er sich wie ein Panther auf der Jagd - allerdings schien das sorgfältig zurechtgelegte schwarze Haar gefärbt zu sein. Ein paar kostbare glitzernde Ringe schmückten seine manikürten Finger, und eine protzige Uhr, besetzt mit Brillanten, tat ihr Übriges, um den gesellschaftlichen Rang des Mannes herauszustellen.
»Warum ist ausgerechneter an unserer Expedition interessiert?«, fragte Viktoria, während sie mit einem ungläubigen Blick Bashtiris weibliche Eskorte beäugte. Drei junge Frauen - die seine Töchter hätten sein können, es aber gewiss nicht waren - staksten auf endlos langen Beinen wie auf einem Laufsteg hinter ihm her. Dabei wippten ihre langen Locken jeweils in Platinblond, Kupferrot und Blauschwarz im Takt ihrer ausladenden Schritte. In graziler Einträchtigkeit ließen sie sich jeweils rechts und links neben Bashtiri nieder, nachdem dieser wie selbstverständlich am Tisch der Ehrengäste Platz genommen hatte.
Ihre Pelzmäntel hatten sie vermutlich im Luxushelikopter ihres Gönners zurückgelassen. Viktoria erspähte durch ein seitliches Fenster den modernen, schneeweißen Helikopter, den der Pilot wie einen Schwan unter hässlichen Entlein zwischen den beiden bulligen MI-26 Maschinen geparkt hatte.
Dass die Damen im Gegensatz zu Bashtiri froren, war unschwer zu erkennen. Unter dem silbernen Logo mit dem klangvollen Namen TAIMURO, das auf den viel zu dünnen weißen Overalls der Frauen prangte, hatten sich deren Brustwarzen gut sichtbar aufgestellt. Doch das schien die Betroffenen genauso wenig zu stören wie das geneigte männliche Publikum. Gekonnt warfen die Damen ihr Haar zurück und schürzten dabei ihre glänzenden, frisch aufgespritzten Lippen.
Theisen blieb vor Staunen der Mund offen stehen - erst recht als eine der Damen den Reißverschluss ihres Overalls ein wenig öffnete und dem geneigten männlichen Volk einen tiefen Ausblick auf ihre silikongepolsterten, leicht gebräunten Brüste präsentierte.
Professor Rodius wirkte irritiert, und Viktoria konnte beiläufig beobachten, wie Olguth ihn offenbar zu beschwichtigen versuchte.
Kolja war Viktorias fragender Blick nicht entgangen. »TAIMURO ist eine Aktiengesellschaft«, murmelte er ihr verschwörerisch zu. »Vorwiegend Öl, aber auch Gas. Allerdings besitzt Bashtiri 95% der Aktien. Somit kann von demokratischer Verteilung nicht die Rede sein. Man munkelt, dass er auf ein neues Gasvorkommen unter dem Chekosee hofft. Seine Agenten sind schon seit längerem in der steinigen Tun-guska unterwegs, um diverse Bohrungen zu unternehmen«, fuhr er leise fort. »Aber das Gebiet ist heiliges Land. Im Gegensatz zu der hier lebenden russischen Bevölkerung, die sehnsüchtig auf lukrativere Arbeitsplätze hofft, sind die örtlichen Ewenkenstämme nicht unbedingt an einer Erschließung der Vorkommen interessiert, zumal es nicht so aussieht, als ob man vorhätte, sie am Erlös zu beteiligen. Außerdem ist die ganze Angelegenheit nicht ungefährlich. Sollte sich herausstellen, dass die Katastrophe von Tunguska durch plötzlich austretendes Erdgas verursacht wurde, bleibt Vorsicht angesagt. Wer will schon, dass ihm bei der Gasförderung ein prall gefüllter Dampfkessel mit der Kraft von mehreren Wasserstoffbomben um die Ohren fliegt?«
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