Der dringende CIA-Fahndungsaufruf, den sie gelesen hatte, betonte ausdrücklich Bournes Fähigkeit, sein Aussehen verblüffend rasch zu verändern und ebenso schnell neue Identitäten anzunehmen. War er der Kurier — und welche andere Möglichkeit gab es, wenn man’s recht bedachte? — , dann würde ihre Karriere eine ganz neue Richtung nehmen, wenn sie ihn verhaftete oder liquidierte. Berard konnte sich vorstellen, wie der Minister — so dankbar, weil sie ihm das Leben gerettet hatte — sich für sie verwandte, sie vielleicht sogar zur Leiterin des zu seinem Schutz abgestellten Geheimdienstpersonals machte.
Aber zuerst musste sie diesen angeblichen Kurier stellen. Zu ihrem Glück war der Peugeot des Ministers keine gewöhnliche Limousine in Standardausführung. Sie merkte bereits, wie der getunte Motor reagierte, als sie durch eine Linkskurve driftete, bei Orange über eine Kreuzung schoss und einen schwerfälligen Sattelschlepper rechts überholte. Den empörten Aufschrei seiner Pressluftfanfaren ignorierte sie. Ihr ganzes Wesen war darauf konzentriert, zu der Voxan Sichtkontakt zu halten.
Anfangs konnte Bourne nicht glauben, dass er so schnell enttarnt worden sein sollte, aber als der Peugeot ihn hartnäckig weiterverfolgte, musste er einsehen, dass etwas schrecklich schief gelaufen sein musste. Er hatte gesehen, wie Robbinet von der Surete eskortiert wurde, und wusste, dass ein Agent seinen Wagen fuhr. Die angenommene Identität würde jetzt nicht ausreichen, um ihn zu schützen; er würde seine Verfolger um jeden Preis abschütteln müssen. Bourne schlängelte sich nach vorn gebeugt durch den Verkehr, wechselte immer wieder das Tempo und variierte die Art und Weise, wie er langsamere Fahrzeuge überholte. Er bog in gefährlichen Schräglagen ab und war sich dabei bewusst, dass er jederzeit stürzen und mit der aufheulenden Voxan über den regennassen Asphalt schlittern konnte. Seine Spiegel zeigten ihm jedoch, dass er es nicht schaffte, den Peugeot abzuschütteln. Schlimmer noch: Sein Verfolger konnte den Abstand zwischen ihnen anscheinend verringern.
Obwohl die Voxan sich geschickt durch den Verkehr schlängelte und obwohl ihr Peugeot weniger wendig war, verringerte Berard den Abstand zwischen ihnen. Sie hatte den in allen Ministerautos installierten Schalter betätigt, der Scheinwerfer und Heckleuchten blinken ließ, und dieses Signal veranlasste die aufmerksameren Autofahrer, ihr Platz zu machen. Vor ihrem inneren Auge liefen die immer komplizierteren und haarsträubenderen Szenen von Vorsicht, Autodiebe! ab. Die vorbeiflitzenden Straßenbilder und die Fahrzeuge, denen sie ausweichen oder die sie überholen musste, waren denen des Computerspiels erstaunlich ähnlich. Um die Voxan nicht aus den Augen zu verlieren, musste sie sich einmal blitzschnell dafür entscheiden, kurz über den Gehsteig zu fahren. Fußgänger spritzten vor ihr auseinander.
Plötzlich sah sie weit vor sich die Auffahrt zur Ai und wusste, dass Bourne dorthin unterwegs sein musste. Die beste Chance, ihn zu stellen, hatte sie, bevor er die Autobahn erreichte. Sie biss sich grimmig entschlossen auf die Unterlippe, nutzte die volle Leistung des aufheulenden Motors aus und verringerte den Abstand noch mehr. Die Vo-xan hatte nur mehr zwei Autos Vorsprung. Berard zog nach links, überholte den ersten Wagen und signalisierte dem zweiten Fahrer, er solle zurückbleiben. Das tat er bereitwillig, denn ihre aggressive Fahrweise wirkte ebenso einschüchternd wie die blinkenden Scheinwerfer des Peugeot.
Berard war entschlossen diese Chance zu nutzen. Die Auffahrt kam rasch näher, also hieß es: Jetzt oder nie! Sie lenkte den Peugeot auf den Gehsteig, um sich rechts neben Bourne zu setzen, damit er den Blick von der Straße nehmen musste, wenn er sie im Auge behalten wollte. Aber bei seinem gegenwärtigen Tempo würde er sich das nicht leisten können. Sie fuhr ihr Fenster herunter und trat das Gaspedal durch, so dass der Wagen in den vom Wind getriebenen Regen vorwärts schoss.
«Stopp!«, rief sie laut.»Surete Nationale! Halt, oder ich schieße!«
Der Kurier ignorierte sie. Sie zog ihre Dienstwaffe und zielte damit auf seinen Kopf. Ihr am Ellbogen abgewinkelter Arm blieb unerschütterlich ruhig. Sie visierte über Kimme und Korn, zielte auf die Vorderkante seiner Silhouette. Dann drückte sie ab.
Im selben Augenblick brach die Voxan jedoch nach links aus, überquerte die linke Spur vor einem Auto, das eben zum Überholen ansetzte, sprang über den niedrigen Fahrbahnteiler und fuhr zwischen dem Gegenverkehr weiter.
«Großer Gott!«, flüsterte Berard erschrocken.»Er spielt Geisterfahrer!«
Als sie den Gehsteig verließ, um die Verfolgung aufzunehmen, sah sie, wie die Voxan sich durch den von der Ai kommenden Verkehr schlängelte. Reifen quietschten, Hupen gellten, erschrockene Fahrer drohten mit der Faust und fluchten. Diese Reaktionen registrierte Berard nur mit einem Teil ihres Verstandes. Der andere Teil war damit beschäftigt sich durch den stehenden Verkehr zu schlängeln, den Fahrbahnteiler zu überwinden und die Autobahnausfahrt zu erreichen.
Sie gelangte bis zum Anfang der Ausfahrtsrampe, die buchstäblich durch einen Wall aus Fahrzeugen blockiert war. Als sie in den peitschenden Regen hinausstürmte, sah sie die Voxan zwischen zwei Fahrspuren mit Gegenverkehr beschleunigen. Bourne hatte bisher erstaunlich Glück gehabt, aber wie lange konnte er diese halsbrecherische Fahrweise durchhalten, ohne zu stürzen?
Das Krad verschwand hinter dem ovalen Silberzylinder eines Tankwagens. Berard schnappte erschrocken nach Luft, als sie auf der Spur daneben einen riesigen Sattelschlepper heranrasen sah. Sie hörte Reifen kreischen, als der Fahrer eine Vollbremsung machte; dann knallte die Voxan gegen den massiven Kühlergrill des Sattelschleppers und explodierte sofort in einem prasselnden, ölig blakenden Feuerball.
Jason Bourne sah etwas, das er als» Zusammentreffen von Gelegenheiten «bezeichnete, unmittelbar vor sich. Er war zwischen zwei Fahrspuren mit Gegenverkehr unterwegs. Rechts neben sich hatte er einen Tankwagen; etwas weiter links vor ihm kam ein riesiger Sattelschlepper heran. Die Entscheidung musste augenblicklich fallen, zum Nachdenken blieb keine Zeit. Er legte sich mit Geist und Körper darauf fest, dieses Zusammentreffen zu nutzen.
Er richtete sich auf den Fußrasten stehend auf und lenkte die Maschine sekundenlang nur noch mit der linken Hand. Er zielte mit der Voxan auf den Sattelschlepper, der links herangerast kam, dann ließ er den Lenker los. Die Finger seiner ausgestreckten Rechten bekamen die schmale Eisenleiter zu fassen, die über die gewölbte Flanke des Tankwagens hinaufführte, sodass er vom Motorrad gerissen wurde. Dann drohten seine Finger von dem regennassen Metall abzurutschen, und er war in Gefahr, vom Fahrtwind weggerissen zu werden. Die Schmerzen in seiner Schulter, die er sich, an der Frachtluke des Flugzeugs hängend, gezerrt hatte, trieben ihm Tränen in die Augen. Mit beiden Händen an der Leiter packte er fester zu. Als er sich mit den Füßen auf den Sprossen an die Flanke des Tankwagens schmiegte, knallte die Voxan gegen den Kühler des Sattelschleppers. Der Tankwagen erzitterte und schwankte auf seinen Stoßdämpfern, als er durch den Feuerball fuhr. Dann war er hindurch und rollte nach Süden, wo der Flughafen Paris-Orly und Bournes Freiheit lagen.
Es gab viele Gründe für Martin Lindros’ raschen, unfehlbar sicheren Aufstieg auf der glitschigen Karriereleiter der Agency. Mit nur achtunddreißig Jahren war er der Stellvertreter des CIA-Direktors geworden. Er war intelligent, kam von den richtigen Universitäten und verlor selbst in kritischen Situationen nie den Kopf. Darüber hinaus stellte sein nahezu eidetisches Gedächtnis einen unschätzbaren Vorteil dar, wenn es darauf ankam, die reibungslose Arbeit der CIA-Verwaltung zu organisieren. Bestimmt lauter wichtige Eigenschaften — für den stellvertretenden CIA-Direktor sogar unentbehrlich. Der Alte hatte Lindros jedoch aus einem weiteren Grund ausgewählt: weil er vaterlos war.
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