Sie war ungefähr zehn Jahre älter als auf dem Foto — sie muss inzwischen fünfzig sein, überlegte Bourne sich, obwohl man ihr das nicht ansieht —, aber ihre Augen waren hell und klar wie auf dem Foto, und ihr Lächeln wirkte reizvoll ironisch. Ihre Kleidung — Jeans und ein Männerhemd — wirkte feminin, weil sie ihre üppige Figur betonte. Sie trug Schuhe mit flachen Absätzen und hatte ihr aschblondes Haar zu einem Nackenknoten gebunden.
«Bonjour, Jacques. «Sie ließ sich von Robbinet auf beide Wangen küssen, aber ihr Blick war schon auf seinen Begleiter gerichtet.
Bourne konnte jetzt Einzelheiten sehen, die der
Schnappschuss nicht hatte erkennen lassen. Die Farbe ihrer Augen, die eleganten Linien von Nase und Lippen, die Weißheit ihrer ebenmäßigen Zähne. Aus ihrem Gesicht sprachen Willensstärke und Einfühlungsvermögen.
«Und Sie müssen Jason Bourne sein. «Die grauen Augen musterten ihn kühl.
«Mein herzliches Beileid wegen Alex«, sagte Bourne.
«Ich danke Ihnen. Die Nachricht war ein Schock für alle, die ihn kannten. «Sie trat einen Schritt zur Seite.»Bitte treten Sie ein.«
Während sie die Tür hinter ihnen schloss, sah Bourne sich im Wohnzimmer um. Mlle. Dutronc wohnte zwar in einem hässlichen Neubauviertel, aber ihr Apartment war ganz anders. Im Gegensatz zu den meisten Menschen ihres Alters umgab sie sich nicht weiterhin mit jahrzehntealten Möbeln und Erinnerungen an die Vergangenheit. Ihre Einrichtung war elegant modern und zugleich bequem. Im Raum verteilte Sessel, identische Zweiersofas auf beiden Seiten des offenen Kamins, dezent gemusterte bodenlange Vorhänge. Bestimmt ein Ort, den man nicht gern verlässt, überlegte er sich.
«Wie ich höre, haben Sie einen langen Flug hinter sich«, sagte sie zu Bourne.»Sie sind sicher ausgehungert. «Sie erwähnte seine unordentliche Kleidung mit keinem Wort, wofür er ihr dankbar war. Bourne musste sich im Esszimmer an den Tisch setzen und bekam einen Sandwichteller, ein Glas Weißwein und Mineralwasser. Als er fertig war, setzte sie sich ihm gegenüber und legte ihre gefalteten Hände auf die Tischplatte.
Bourne sah jetzt, dass sie geweint hatte.
«War er sofort tot?«, fragte Mlle. Dutronc.»Wissen Sie, ich habe mich gefragt, ob er leiden musste.«
«Nein«, antwortete Bourne wahrheitsgemäß.»Das glaube ich nicht.«
«Das ist immerhin etwas. «Ihr Gesichtsausdruck wirkte zutiefst erleichtert. Als Mlle. Dutronc sich zurücklehnte, erkannte Bourne, wie verkrampft sie dagesessen hatte.»Danke, Jason. «Sie sah wieder auf. Die ausdrucksvollen grauen Augen erwiderten seinen Blick, und das Gesicht spiegelte ihre Emotionen wider.»Darf ich Sie Jason nennen?«
«Natürlich«, sagte er.
«Sie haben Alex gut gekannt, nicht wahr?«
«So gut, wie man Alex Conklin überhaupt nur kennen konnte.«
Ihr Blick streifte Robbinet nur, aber das genügte schon.
«Ich muss ein paar Leute anrufen. «Der Minister hatte bereits sein Handy aus der Tasche geholt.»Ihr seid mir sicher nicht böse, wenn ich euch kurz allein lasse.«
Sie sah Robbinet nach, bis er ihm Wohnzimmer verschwunden war. Dann wandte sie sich wieder an Bourne.»Jason, was Sie vorhin gesagt haben, waren die Worte eines wahren Freundes. Selbst wenn Alex mir nie von Ihnen erzählt hätte, würde ich das Gleiche sagen.«
«Alex hat mit Ihnen über mich gesprochen?«Bourne schüttelte den Kopf.»Mit Zivilisten hat Alex nie über seine Arbeit gesprochen.«
Wieder dieses Lächeln; diesmal war die Ironie jedoch unverkennbar.»Aber ich bin keine >Zivilistin<, wie Sie’s ausdrücken. «Sie hielt plötzlich eine Packung Zigaretten in der Hand.»Stört es Sie, wenn ich rauche?«
«Durchaus nicht.«
«Viele Amerikaner sind militante Nichtraucher. Bei euch ist das zu einem regelrechten Wahn geworden,nicht wahr?«
Sie erwartete keine Antwort, und Bourne gab auch keine. Er beobachtete, wie sie sich eine Zigarette anzündete, den Rauch tief inhalierte und ihn dann langsam, genussvoll ausstieß.»Nein, ich bin ganz entschieden keine >Zivilistin<. «Bläulicher Zigarettenqualm umwaberte sie.»Ich arbeite für die Surete Nationale.«
Bourne blieb unbeweglich sitzen. Unter dem Tisch umklammerte seine Rechte den Griff der Keramikpistole.
Als könne sie seine Gedanken lesen, schüttelte Mlle. Dutronc den Kopf.»Kein Grund zur Aufregung, Jason. Jacques hat Sie nicht in eine Falle gelockt. Sie sind hier bei Freunden.«
«Das verstehe ich nicht«, sagte er heiser.»Wenn Sie bei der Surete sind, hätte Alex Ihnen erst recht nichts über seine Arbeit erzählt, um Sie nicht in Loyalitätskonflikte zu stürzen.«
«Stimmt genau. Und so hat er’s über viele Jahre hinweg gehalten. «Mlle. Dutronc inhalierte erneut, stieß den Rauch durch Mund und Nase aus. Mit der Angewohnheit, dabei leicht den Kopf zu heben, erinnerte sie an Marlene Dietrich.»Bis dann vor kurzem irgendwas passiert ist. Ich weiß nicht, was — er wollte es mir nicht sagen, obwohl ich ihn darum gebeten habe.«
Sie betrachtete ihn einige Sekunden lang durch die Rauchschwaden. Als Geheimagentin verstand sie sich darauf, hinter einer undurchdringlichen Miene zu verbergen, was sie fühlte oder dachte. Aber ihr Blick zeigte ihm, was sie beschäftigte, und er merkte, dass sie ihre anfängliche Reserviertheit aufgegeben hatte.
«Sagen Sie mir, Jason, können Sie sich als langjähriger Freund erinnern, Alex jemals ängstlich erlebt zu haben?«
«Nein«, sagte Bourne.»Alex hatte nie Angst.«
«Aber an jenem Tag war er ängstlich. Deshalb habe ich ihn gebeten, mir davon zu erzählen, damit ich ihm helfen oder ihn wenigstens dazu überreden konnte, der Gefahr aus dem Weg zu gehen.«
Bourne beugte sich nach vorn. Seine Haltung war jetzt ebenfalls aufs Äußerste angespannt.»Wann war das?«
«Vor zwei Wochen.«
«Hat er wenigstens irgendwas erzählt?«
«Er hat einen Namen erwähnt: Felix Schiffer.«
Bournes Herz begann zu jagen.»Dr. Schiffer hat bei der DARPA gearbeitet.«
Sie runzelte die Stirn.»Alex hat mir erzählt, er arbeite in der Entwicklungsabteilung für nichttödliche taktische Waffen.«
«Das ist ein Anhängsel der Agency«, sagte Bourne halb zu sich selbst. Die Puzzlesteine ergaben allmählich ein Bild. Konnte Alex erreicht haben, dass Felix Schiffer die DARPA verließ, um zur Entwicklungsabteilung zu gehen? Natürlich wäre es für ihn ein Leichtes gewesen, Schiffer» verschwinden «zu lassen. Aber warum hätte er das tun sollen? Hätte er nur im Revier des Verteidigungsministeriums wildern wollen, hätte er die dadurch ausgelösten Proteste locker weggesteckt. Nein, Alex musste einen anderen Grund gehabt haben, Felix Schiffer verschwinden zu lassen.
Er starrte Mylene forschend an.»War Dr. Schiffer der Grund, dass Alex Angst hatte?«
«Das hat er nicht zugegeben, Jason. Aber wer sonst sollte der Grund gewesen sein? An jenem Tag hat Alex in ganz kurzer Zeit viele Anrufe bekommen und selbst viel telefoniert. Er war schrecklich nervös, und ich wusste, dass irgendein wichtiges Unternehmen in die kritische Phase getreten war. Bei dieser Gelegenheit habe ich mehrmals Dr. Schiffers Namen gehört und vermute daher, dass er der Mittelpunkt des Unternehmens gewesen ist.«
Inspektor Savoy saß bei laufendem Motor in seinem Cit-roen und horchte auf das Quietschen der Wischerblätter auf der Windschutzscheibe. Er hasste den Regen. Es hatte an dem Tag geregnet, an dem seine Frau ihn verlassen hatte, an dem seine Tochter für immer abgereist war, um in Amerika zu studieren. Seine Exfrau lebte jetzt in Boston, war mit einem stinknormalen Investmentbanker verheiratet. Sie hatte drei Kinder, ein Haus, Grundbesitz, alles, was ihr Herz begehrte, während er in diesem beschissenen Nest hockte — Wie hieß es gleich wieder? Ah, richtig, Goussainville — und sich die Fingernägel abkaute. Und obendrein regnete es wieder.
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