«Wohin fahren wir, Jacques?«, fragte Bourne.»Ich muss so schnell wie möglich nach Budapest.«
«D’accord«, sagte Robbinet. Er sah immer wieder in seinen Rückspiegel und hielt Ausschau nach Fahrzeugen der Police Nationale. Mit der Surete sah die Sache anders aus; die Geheimdienstler fuhren neutrale Wagen, die alle paar Monate innerhalb der Abteilungen gewechselt wurden.»Ich hatte für dich einen Platz in einer Maschine gebucht, die vor fünf Minuten gestartet ist, aber während du in der Luft warst, hat die Situation sich dramatisch verändert. Die Agency heult nach deinem Blut, und dieses Heulen wird in allen Staaten der Erde gehört, in denen sie Einfluss hat — selbstverständlich auch in meinem.«
«Aber es muss eine Möglichkeit geben.«
«Natürlich gibt es eine, mon ami.« Robbinet lächelte.»Wo ein Wille, da ein Weg, das habe ich von einem gewissen Jason Bourne gelernt. «Er bog nochmals ab, fuhr dann auf der Ni7 nach Norden weiter.»Während du dich im Kofferraum ausgeruht hast, bin ich keineswegs untätig gewesen. Um sechzehn Uhr startet auf dem Flughafen Orly eine Militärmaschine mit dir an Bord.«
«Warum so spät?«, fragte Bourne.»Was spricht dagegen, dass ich mit dem Auto nach Budapest fahre?«
«Nun, das Risiko, dass du in eine Straßensperre der Police Nationale gerätst, ist viel zu groß. Und deine rachsüchtigen amerikanischen Freunde haben die Surete alarmiert und aufgestachelt. «Der Franzose zuckte mit den Schultern.»Alles ist vorbereitet. Ich habe die nötigen Genehmigungen für dich ausstellen lassen. Fliegst du mit einer Militärmaschine, wirst du nicht kontrolliert, und wir wollen, dass die heiße Spur, die du im Terminal drei hinterlassen hast, zügig kalt wird, non?«Er überholte einen Lastwagen.»Bis dahin brauchst du ein sicheres Versteck.«
Bourne drehte den Kopf zur Seite, starrte in die trostlose Industrielandschaft hinaus. Was seit seiner letzten Begegnung mit Chan geschehen war, traf ihn jetzt mit der Gewalt eines entgleisenden Zugs. Er konnte nichts anders, er musste den brennenden Schmerz in seinem Inneren erforschen, wie man gegen einen schmerzenden Zahn drückt, nur um festzustellen, wie tief der Schmerz wirklich sitzt. Ein scharf analysierender Teil seines Verstands hatte bereits festgestellt, dass Chan in Wirklichkeit nichts gesagt hatte, was tief greifende Kenntnisse über David oder Joshua Webb bewies. Gewiss, er hatte Andeutungen, Anspielungen, gemacht, aber worauf liefen sie letztlich hinaus?
Als Bourne bemerkte, dass sein alter Freund ihn prüfend betrachtete, wandte er sich noch weiter dem Fenster zu.
«Keine Sorge, mon ami«, sagte Robbinet, der sein trübseliges Schweigen falsch deutete,»kurz nach achtzehn Uhr bist du in Budapest.«
«Merci, Jacques. «Bourne gab sich einen Ruck, um seine melancholischen Gedanken zu überwinden.»Danke für all deine Freundlichkeit und Hilfe. Was machen wir jetzt?«
«Wir fahren nach Goussainville. Nicht die malerischste Stadt Frankreichs, aber dort wohnt jemand, der dich interessieren dürfte.«
Die restliche Strecke legten sie schweigend zurück. Robbinet hatte Goussainville zutreffend geschildert: Es gehörte zu den ehemaligen Dörfern im Großraum Paris, die wegen ihrer Flughafennähe zu modernen Industriestädten geworden waren. Auch die farbenprächtigen Blumen, mit denen Gehsteigränder und Verkehrskreisel bepflanzt waren, machten die deprimierende Ansammlung von Hochhäusern, Bürogebäuden mit Glasfassaden und riesigen Einkaufszentren kaum erträglicher.
Bourne fiel das unter dem Handschuhfach montierte Funkgerät auf, das normalerweise vermutlich von Jacques’ Fahrer benützt wurde. Als Robbinet in eine Tankstelle abbog, fragte er seinen Freund nach den Einsatzfrequenzen von Police Nationale und Surete. Während Robbinet tankte, hörte Bourne beide Frequenzen ab, ohne etwas über den Vorfall am Flughafen oder über die laufende Fahndung mitzubekommen. Dabei beobachtete er die von der Straße in die Tankstelle abbiegenden Autos. Eine Frau stieg aus ihrem Wagen und fragte Robbinet, was er von ihrem rechten Vorderreifen halte. Sie fürchtete, er verliere Luft. Dann hielt ein Auto mit zwei jungen Leuten neben den Zapfsäulen. Beide stiegen aus. Während der Beifahrer sich gähnend reckte, verschwand der Fahrer in dem Tankstellenshop. Der Blick des Zurückgebliebenen streifte Robbinets Peugeot, dann heftete er sich anerkennend auf die Frau, die um ihren Wagen herum zurückging.
«Irgendwas im Funk?«, fragte Jacques, als er sich wieder ans Steuer setzte.
«Überhaupt nichts.«
«Na, das ist doch eine gute Nachricht«, sagte Robbi-net, als sie davonfuhren.
Sie fuhren kreuz und quer durch ein Labyrinth aus hässlichen Straßen, und Bourne sah dabei in den Außenspiegel, um sich zu vergewissern, dass der Wagen mit den beiden jungen Männern ihnen nicht folgte.»Goussainville hat eine uralte königliche Vergangenheit«, erzählte Jacques.»Zu Anfang des sechsten Jahrhunderts hat es Clotaire, der Gemahlin des französischen Königs Clovis, gehört. Während die Franken noch als Barbaren galten, hat er sich taufen lassen, wodurch wir für die Römer akzeptabel wurden. Der Kaiser hat ihn zum Konsul ernannt. Damit wurden aus Barbaren plötzlich wahre Verteidiger des Glaubens.«
«Ich hätte nicht vermutet, dass dieses Nest eine mittelalterliche Stadt war.«
Der Minister hielt vor einigen tristen grauen Apartmentgebäuden.»In Frankreich«, sagte er,»verbirgt Geschichte sich oft an ganz unerwarteten Orten.«
Bourne sah sich um.»Hier wohnt deine gegenwärtige Geliebte, stimmt’s?«, fragte er.»Als du mich mit ihrer Vorgängerin bekannt gemacht hast, musste ich so tun, als sei sie meine Freundin, weil deine Frau in das Bistro gekommen ist, in dem wir vor unseren Drinks saßen.«
«Soviel ich mich erinnere, hast du dich an diesem Nachmittag recht gut amüsiert. «Robbinet schüttelte den Kopf.»Nein, ich möchte wetten, dass Delphine, die ständig von Dior, Yves Saint-Laurent und anderen Luxusmarken redet, sich lieber die Pulsadern aufschneiden als in Goussainville leben würde.«
«Was tun wir dann hier?«
Der Minister saß einige Zeit nur da und starrte in den Regen hinaus.»Scheußliches Wetter«, sagte er zuletzt.
«Jacques…?«
Robbinet sah zu ihm hinüber.»Oh, entschuldige, mon ami. Ich war in Gedanken woanders. Alors, ich möchte, dass du Mylene Dutronc kennen lernst. «Er legte den Kopf schief.»Hast du ihren Namen schon mal gehört?«Als Bourne den Kopf schüttelte, fuhr Robbinet fort:»Das habe ich mir gedacht. Nun, da er jetzt tot ist, darf man wohl darüber sprechen. Mademoiselle Dutronc war Alex Conklins Geliebte.«
«Lass mich raten«, sagte Bourne sofort.»Helle Augen, langes lockiges Haar, leicht ironisches Lächeln?«
«Er hat dir also von ihr erzählt?«
«Nein, ich habe ein gerahmtes Foto gesehen. Es war so ziemlich der einzige private Gegenstand in seinem Schlafzimmer. «Er zögerte einen Augenblick.»Weiß sie Bescheid?«
«Als sein Tod gemeldet wurde, habe ich sie sofort angerufen.«
Bourne fragte sich, weshalb Robbinet ihr die Nachricht nicht selbst überbracht hatte. Das hätte der Anstand erfordert.
«Genug geredet. «Aus dem Fußraum hinter dem Fahrersitz holte Robbinet eine Reisetasche hervor.»Wir besuchen jetzt Mylene.«
Sie stiegen aus dem Peugeot, gingen im Regen zwischen Blumenrabatten zur Haustür und stiegen zwei, drei Betonstufen hinauf. Robbinet klingelte bei 4A, und einen Augenblick später summte der elektrische Türöffner.
Das Apartmentgebäude war innen ebenso schlicht und hässlich wie außen. Sie stiegen die Treppe in den vierten Stock hinauf und gingen einen Flur mit identischen Wohnungstüren auf beiden Seiten entlang. Beim Geräusch ihrer Schritte wurde die Tür von 4A geöffnet. Unmittelbar dahinter stand Mylene Dutronc.
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