«Wir warten auf Jacques Robbinet.«
Sie machte große Augen.»Du meinst den Kulturminister? Aber was täte der ausgerechnet in Goussainville?«
«Da kann ich auch nur raten«, bestätigte Inspektor Savoy.»Trotzdem ist sein Wagen hier in der Nähe geparkt.«
«Der Inspektor ist zu clever für uns, cherie.« Jacques Robbinet, der sich dabei sein weißes Hemd zuknöpfte, kam mit großen Schritten ins Wohnzimmer.»Er hat uns aufgespürt.«
Mylene, die Savoy den Rücken zukehrte, funkelte Robbinet warnend an. Er erwiderte ihren Blick unbekümmert lächelnd.
Seine Lippen streiften ihre, als er sich neben ihr aufbaute.
Inspektor Savoy wand sich inzwischen vor Verlegen-heit.»Minister Robbinet, ich hatte keine Ahnung. ich wollte bestimmt nicht stören.«
Robbinet hob eine Hand.»Schon gut, aber wieso sind Sie auf der Suche nach mir?«
Sichtlich erleichtert zeigte Savoy das körnige Foto von Jason Bourne vor.»Wir fahnden nach diesem Mann, Minister. Er ist ein berühmter CIA-Killer, der zum Verbrecher geworden ist. Wir haben Grund zu der Annahme, dass er Sie ermorden will.«
«Aber das ist ja schrecklich, Alain!«
Bourne beobachtete diese Farce durch einen Spalt der Esszimmertür und hatte den Eindruck, dass Mylene echt schockiert wirkte.
«Ich kenne diesen Mann nicht«, sagte Robbinet,»und weiß auch nicht, warum er mir nach dem Leben trachtet. Aber wer kann sich schon in einen Attentäter hineinversetzen?«Er zuckte mit den Schultern und wandte sich Mylene zu, die ihm Sakko und Tweedmantel hinhielt.»Aber ich werde trotzdem möglichst schnell nach Paris zurückkehren.«
«Nur in unserer Begleitung«, sagte Savoy nachdrücklich.»Sie fahren mit mir, und meine Kollegin fährt Ihren Dienstwagen. «Er streckte eine Hand aus.»Wenn Sie so freundlich sein wollen.«
«Wie Sie meinen. «Robbinet gab die Peugeotschlüssel ab.»Ich vertraue mich Ihnen an, Inspektor.«
Als er sich umdrehte und Mylene in die Arme schloss, zog Savoy sich diskret zurück und sagte, er werde auf dem Flur warten.
«Geh mit Jason in die Tiefgarage hinunter«, flüsterte Robbinet ihr ins Ohr.»Nimm meinen Aktenkoffer mit und gib ihm den Inhalt, kurz bevor ihr euch trennt. «Er nannte die Kombination des Zahlenschlosses, und sie nickte.
Mylene blickte zu ihm auf, dann küsste sie ihn plötzlich auf den Mund und sagte:»Behüt dich Gott, Jacques.«
Seine Reaktion bestand daraus, dass seine Augen sich sekundenlang weiteten. Dann war er fort, und Mylene durchquerte rasch das Wohnzimmer.
Als sie halblaut seinen Namen rief, trat Bourne aus dem Esszimmer.»Wir müssen den Vorteil, den Jacques Ihnen verschafft hat, bestmöglich nutzen.«
Bourne nickte. »D’accord.«
Mylene schnappte sich Robbinets Aktenkoffer.»Also los! Wir müssen uns beeilen!«
Sie öffnete die Wohnungstür, überzeugte sich mit einem Blick nach draußen, dass die Luft rein war, und führte ihn dann zur Tiefgarage hinunter. Dort blieb sie an der stählernen Brandschutztür stehen, sah durch das Drahtglasfenster und berichtete:»Die Tiefgarage scheint leer zu sein, aber bleiben Sie wachsam, man kann nie wissen.«
Sie stellte die Zahlenkombination ein, holte ein versiegeltes Päckchen aus dem Aktenkoffer und hielt es Bourne hin.»Hier ist das Geld, das Sie angefordert haben… mit Ihrem Dienstausweis und einem Marschbefehl. Als der Kurier Pierre Montefort haben Sie den Auftrag, unserem Militärattache in Budapest heute bis spätestens neunzehn Uhr dieses Päckchen mit streng geheimen Schriftstücken zu übergeben. «Sie ließ einen Metallring mit zwei Schlüsseln in Bournes Handfläche fallen.»Auf dem vorletzten Platz in der dritten Reihe steht ein olivgrünes Krad.«
Bourne und Mylene standen sich noch einen Augen-blick lang stumm gegenüber. Er öffnete den Mund, aber sie sprach zuerst:»Denken Sie daran, Jason, das Leben ist zu kurz, als dass man lange trauern dürfte.«
Darauf wandte Bourne sich ab und marschierte militärisch stramm durch die Stahltür in das triste, trüb beleuchtete Kellergeschoss mit kahlen Betonwänden und einem ölfleckigen Betonboden hinaus. Er sah weder links noch rechts, als er die um diese Zeit noch weitgehend leeren Reihen abschritt. Vor der dritten Reihe bog er rechts ab. Im nächsten Augenblick fand er das Motorrad: eine olivgrün lackierte Voxan VB-i mit einem riesigen Zweizylindermotor mit 996 Kubikzentimetern Hubraum. Sturzhelm und Regenanzug — beides militärisch olivgrün- fand Bourne im Topcase. Er verstaute Uniformmütze und Geldpäckchen darin, schlüpfte in den Regenanzug und setzte den Sturzhelm auf. Dann schwang er sich in den Sattel, bugsierte die Maschine aus der Parklücke, ließ den Motor an und röhrte die Tiefgaragenrampe hinauf und in den Regen hinaus.
Justine Berard hatte über ihren Sohn Yves nachgedacht, als Inspektor Savoy angerufen hatte. Zu Yves fand sie nur noch Zugang über seine Computerspiele. Als sie ihn zum ersten Mal bei Vorsicht, Autodiebe! geschlagen hatte — sie bremste seinen Wagen gekonnt aus —, hatte er sie erstmals seit langem richtig angesehen und sie tatsächlich als lebendes, atmendes menschliches Wesen wahrgenommen, anstatt in ihr nur eine lästige Nörglerin zu sehen, die für ihn wusch und kochte. Seitdem setzte er ihr jedoch zu, ihn zu einer Ausfahrt in ihrem Dienstwagen mitzunehmen. Bisher hatte sie ihn abwimmeln können, aber letzten Endes würde er bestimmt seinen Willen bekommen — nicht nur, weil sie stolz auf ihre nervenstarken Fahrkünste war, sondern weil sie sich verzweifelt wünschte, dass Yves stolz auf sie wäre.
Nachdem Savoy angerufen und ihr mitgeteilt hatte, er habe Minister Robbinet gefunden und werde ihn nach Paris zurückbegleiten, hatte sie sofort die nötigen Vorbereitungen getroffen, Männer vom Überwachungsdienst abgezogen und die Police Nationale verständigt, damit sie zunächst den Personenschutz des Ministers übernahm. Jetzt alarmierte sie die Polizeibeamten mit Handzeichen, als Inspektor Savoy den Kulturminister aus dem Apartmentgebäude begleitete. Gleichzeitig suchte sie die Straße nach einem Anzeichen auf die Gegenwart des übergeschnappten Killers Jason Bourne ab.
Berard war in Hochstimmung. Unabhängig davon, ob Inspektor Savoy den Minister in diesem Häuserlabyrinth durch Überlegung oder nur mit Glück aufgespürt hatte, würde sie gewaltig davon profitieren. Schließlich hatte sie Savoy hierher geführt, und sie würde dabei sein, wenn sie Jacques Robbinet heil und gesund nach Paris zurückbrachten.
Savoy und Robbinet überquerten die Straße unter den wachsamen Blicken der mit schussbereiten Maschinenpistolen Spalier stehenden Polizeibeamten. Sie hielt die hintere rechte Tür des Citroen auf, und als Savoy an ihr vorbeiging, übergab er ihr die Autoschlüssel des Ministers.
Als Robbinet sich bückte, um hinten einzusteigen, hörte Berard das Röhren eines starken Motorrads. Dem Echo nach kam es aus der Tiefgarage des Gebäudes, in dem Savoy den Minister aufgespürt hatte. Sie legte den Kopf schief, weil sie das Grollen einer Voxan VB-i erkannte. Ein beim Militär eingesetztes Krad.
Im nächsten Augenblick sah sie, wie der Kurier, aus der Tiefgarage kommend, beschleunigte, und griff nach ihrem Handy. Was hatte ein Motorradkurier in Gous-sainville zu suchen? Fieberhaft überlegend war sie bereits zu dem Peugeot des Ministers unterwegs. Sie blaffte ihren Surete-Zugangscode und verlangte die Dienststelle des Verbindungsoffiziers. Sie erreichte den Peugeot, entriegelte die Türen und glitt hinters Steuer. Da Alarmstufe rot herrschte, dauerte es nicht lange, bis Berard die gewünschte Auskunft enthielt: In Goussainville und Umgebung war kein Militärkurier unterwegs.
Sie ließ den Motor an und legte den ersten Gang ein. Inspektor Savoys fragender Schrei ging im Quietschen der Reifen des Peugeot unter, als sie mit durchgetretenem Gaspedal die Straße entlang beschleunigte, um die Verfolgung der Voxan aufzunehmen. Sie konnte nur vermuten, Bourne habe Savoy und sie erkannt und deshalb befürchtet, er sitze in der Falle, wenn er nicht sofort flüchte.
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