«Ins Ausland geflüchtet?«Alonzo-Ortiz stand auf.»In welches Ausland?«
Der CIA-Direktor schwieg.
«Ah, ich verstehe. Gelangt Bourne auch nur in die Nähe von Reykjavik…«
«Weshalb sollte er das tun?«
«Das weiß ich nicht. Er ist verrückt — haben Sie das vergessen? Er ist total durchgeknallt. Und er muss wissen, dass eine Sabotage der Sicherheitsmaßnahmen beim Gipfeltreffen uns in höchste Verlegenheit bringen würde. «Ihr Zorn war fast mit Händen zu greifen, und der Direktor hatte erstmals wirklich Angst vor ihr.
«Ich will Bournes Tod«, sagte sie mit stählerner Stimme.
«Genau wie ich. «Der Direktor kochte innerlich.»Er hat schon zwei Männer getötet, und einer war ein alter Freund von mir.«
Die Nationale Sicherheitsberaterin kam hinter ihrem Schreibtisch hervor.»Der Präsident verlangt, dass Bourne liquidiert wird. Ein übergeschnappter Agent — und wir wollen ehrlich zugeben, dass Jason Bourne der schlimmstmögliche Fall ist — stellt ein Risiko dar, das wir auf keinen Fall eingehen dürfen. Drücke ich mich deutlich genug aus?«
Der CIA-Direktor nickte nachdrücklich.»Glauben Sie mir, Bourne ist so gut wie tot, spurlos verschwunden, als habe er nie gelebt.«
«Aus Ihrem Mund in Gottes Ohr. Der Präsident behält Sie im Auge«, sagte Roberta Alonzo-Ortiz und beendete das Gespräch ebenso abrupt und unfreundlich, wie sie es begonnen hatte.
Jason Bourne erreichte Paris an einem nassen, wolkenverhangenen Morgen. Im Regen machte die Lichterstadt Paris nicht gerade den besten Eindruck. Die Häuser mit Mansardendächern sahen grau und blass aus, und die sonst so belebten Cafes auf den Gehsteigen waren nahezu leer. Das Leben ging auch gedämpft weiter, aber die Stadt war anders, als wenn sie im Sonnenschein leuchtete und glänzte, wenn an jeder Ecke Lachen und lebhafte Gespräche zu hören waren.
Bourne war körperlich und emotional erschöpft und hatte den größten Teil des Fluges zusammengerollt auf der Seite liegend verschlafen. Obwohl sein Schlaf immer wieder durch verstörende Albträume unterbrochen wurde, gewährte er Bourne doch eine dringend benötigte Erholungspause von den Schmerzen, die ihn in der ersten Stunde nach dem Start gequält hatten. Als er durchfroren und steif aufwachte, musste er wieder an den Steinbuddha um Chans Hals denken. Die kleine Statue schien ihn grinsend zu verspotten: ein Rätsel, das noch gelöst werden musste. Er wusste, dass solche Kleinstatuen ein Massenartikel waren — allein in dem Laden, in dem Dao und er einen für Joshua ausgesucht hatten, hatte es über ein Dutzend gegeben! Und er wusste, dass viele asiatische Buddhisten solche Talismane zum Schutz und als Glücksbringer trugen.
Vor seinem inneren Auge erschien wieder Chans wissender Gesichtsausdruck, so von Erwartung und Hass leuchtend, als er gesagt hatte: »Den kennst du, nicht wahr?« Und er hatte so gewaltsam hervorgestoßen: »Er gehört mir, Bourne. Hast du verstanden? Dieser Buddha gehört mir!« Chan war nicht Joshua Webb, das wusste Bourne jetzt. Chan war clever, aber auch grausam: ein Profikiller, der schon oft gemordet hatte. Er konnte nicht Bournes Sohn sein.
Trotz starker Querwinde vor Neufundland landete Flug 113 von Rush Service halbwegs pünktlich auf dem Pariser Flughafen Charles de Gaulle. Bourne hätte den Frachtraum am liebsten gleich nach der Landung verlassen, aber er widerstand diesem Drang.
Um sie herum rollten, landeten und starteten weitere Maschinen. Stieg er jetzt aus, würde er exponiert auf einer Fläche stehen, die auch das Flughafenpersonal im Regelfall nicht betreten durfte. Also wartete er geduldig, während das Flugzeug von der Landebahn rollte.
Als es langsamer wurde, wusste er, dass er jetzt handeln musste. Solange die Maschine mit noch arbeitenden Triebwerken rollte, würde sich ihr niemand vom Bodenpersonal nähern. Er öffnete die Frachtraumtür und sprang auf den Asphalt hinunter, als eben ein Tankwagen vorbeifuhr. Bourne sprang hinten auf. Während er sich dort festklammerte, wurde er von heftiger Übelkeit erfasst, weil starke Kerosindämpfe die Erinnerung an
Chans Überraschungsangriff wachriefen. Er sprang möglichst rasch wieder ab und gelangte auf Umwegen ins Terminal.
Drinnen prallte er mit einem Arbeiter an der Laderampe zusammen, entschuldigte sich in fließendem Französisch und hielt sich mit einer Hand den Kopf, um anzudeuten, wie schlimm seine Migräne sei. Hinter der nächsten Biegung des Korridors benützte er den Dienstausweis, den er dem Arbeiter gerade geklaut hatte, um durch zwei Türen ins eigentliche Terminal zu gelangen, das zu seiner Verblüffung nur ein umgebauter Hangar war. Dort waren verdammt wenige Leute unterwegs, aber immerhin hatte er erfolgreich die Pass- und Zollkontrollen umgangen.
Bei erster Gelegenheit warf er den geklauten Dienstausweis in einen Abfallbehälter. Er wollte nicht mit ihm erwischt werden, wenn der Arbeiter ihn als verloren meldete. Unter einer großen Wanduhr stehend stellte er seine Armbanduhr. In Paris war es wenige Minuten nach sechs Uhr morgens. Er rief Robbinet an und erklärte ihm, wo er war.
Der Minister wirkte leicht verwirrt.»Bist du mit einem Charterflugzeug angekommen, Jason?«
«Nein, mit einer Frachtmaschine.«
«Bon, das erklärt, warum du im alten Terminal drei bist. Die Maschine muss von Orly aus umgeleitet worden sein«, sagte Robbinet.»Bleib einfach, wo du bist, mon ami. Ich hole dich sofort ab. «Er lachte halblaut.»Erst mal: Willkommen in Paris. Unheil und Verwirrung deinen Verfolgern!«
Bourne verschwand auf der Herrentoilette, um sich zu waschen. Aus dem Spiegel starrte ihn ein ausgezehrtes
Gesicht mit gehetztem Blick und blutiger Kehle an — jemand, den er kaum wiedererkannte. Er ließ Wasser in seine hohlen Hände laufen und spülte damit Schmutz, Schweiß und die Reste des zuvor aufgetragenen Makeups ab. Mit einem feuchten Papierhandtuch säuberte er die dunklen Ränder des Schnitts quer über seiner Kehle. Er wusste, dass er dort möglichst bald eine desinfizierende Salbe auftragen musste.
Seine Magennerven waren verkrampft, und obwohl er keinen Hunger hatte, wusste er, dass er Nahrung brauchte. In unregelmäßigen Abständen hatte er wieder den Geschmack von Kerosin im Mund und musste jedes Mal würgen, wobei seine Augen vor Anstrengung tränten. Um sich von diesem jammervollen Zustand abzulenken, machte er in einer WC-Kabine fünf Minuten lang Stretching und anschließend fünf Minuten Gymnastik, um seine schmerzenden und verkrampften Muskeln zu lockern. Er ignorierte die Schmerzen, die diese Übungen verursachten, und konzentrierte sich stattdessen darauf, tief und gleichmäßig zu atmen.
Als er wieder ins Terminal hinaustrat, wartete dort schon Jacques Robbinet auf ihn. Er war ein großer, außergewöhnlich sportlicher Mann, der einen dunkelblauen Nadelstreifenanzug, glänzend geputzte feste Schuhe und einen modischen Tweedmantel trug. Er war nun älter und ein wenig grauer, aber ansonsten die Gestalt aus Bournes Erinnerungsfragment.
Er entdeckte Bourne sofort und grinste zur Begrüßung, wartete jedoch an seinem Platz auf seinen alten Freund und bedeutete ihm mit einem Handzeichen, nach rechts durchs Terminal weiterzugehen. Bourne entdeckte sofort den Grund seiner Zurückhaltung. Mehrere Beamte der
Police Nationale hatten den ehemaligen Hangar betreten und befragten das Flughafenpersonal — zweifellos auf der Suche nach dem Verdächtigen, der den Dienstausweis des Arbeiters entwendet hatte. Bourne bewegte sich ohne sichtbare Eile. Er hatte den Ausgang schon fast erreicht, als er zwei weitere Polizeibeamte mit vor der Brust getragenen Maschinenpistolen sah, die jeden aufmerksam beobachteten, der das Terminal betrat oder verließ.
Robbinet hatte sie ebenfalls gesehen. Er hastete mit gerunzelter Stirn an Bourne vorbei, trat ins Freie und sprach die Polizeibeamten an. Sobald er seinen Namen genannt hatte, meldeten sie ihm, sie fahndeten nach einem Verdächtigen — einem mutmaßlichen Terroristen —, der einem Arbeiter an der Laderampe den Dienstausweis gestohlen habe. Sie zeigten ihm sogar ein Fax mit Bournes Fahndungsfoto.
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