«Lügner!«Bourne riss die Arme hinter seinem Rücken hervor und stürzte sich auf ihn. Als Chan ihn gefesselt hatte, hatte er die Armmuskeln und die Sehnen des Handgelenks angespannt, damit sie stärker hervortraten. Und während Chan sich an seiner Hilflosigkeit geweidet hatte, war es ihm gelungen, die schlaff gewordene Fesselkordel abzustreifen.
Chan war nicht auf diesen Ansturm gefasst. Er fiel nach hinten, und Bourne landete auf ihm. Die Stablampe schepperte zu Boden und rollte mal hierhin, mal dorthin, wobei ihr heller Strahl die Kämpfenden beleuchtete und mal ein verzerrtes Gesicht, mal einen angespannten Muskel hervortreten ließ. In diesem unheimlichen Wechsel aus Licht und Schatten, der so an den dichten Urwald erinnerte, den sie hinter sich gelassen hatten, kämpften die beiden wie Raubtiere, sie atmeten die Feindseligkeit des anderen ein, sie rangen auf Leben und Tod.
Bourne knirschte mit den Zähnen, ohne sich dessen bewusst zu sein. In blinder Wut schlug er immer wieder auf Chan ein. Chan gelang es, seinen Oberschenkel in die Hände zu bekommen und mit den Daumen auf einen dort befindlichen Nervenknoten zu drücken. Bourne taumelte, weil sein vorübergehend gelähmtes Bein unter ihm nachgab. Chan verpasste ihm einen Kinnhaken, und Bourne taumelte noch mehr, schüttelte dabei benommen den Kopf. Als es ihm gelang, sein Schnappmesser herauszuziehen, traf Chan ihn mit einem weiteren gewaltigen Boxhieb. Bourne ließ das Messer fallen. Chan griff es sich sofort, ließ die Klinge aufschnappen.
Er stand jetzt über Bourne, hielt ihn am Hemd gepackt und riss ihn daran hoch. Ein kurzer Schauder durchlief seinen Körper, wie ein Stromstoß durch eine Leitung geht, wenn ein Schalter umgelegt wird.»Ich bin dein Sohn. Chan ist ein Name, den ich angenommen habe, genau wie David Webb den Namen Jason Bourne angenommen hat.«
«Nein!«Bourne musste schreien, um den anschwellenden Lärm und die Vibrationen der Triebwerke zu übertönen.»Mein Sohn ist mit dem Rest meiner Familie in Phnom Penh umgekommen!«
«Ich bin Joshua Webb«, sagte Chan.»Du hast mich im Stich gelassen. Du hast mich dem Dschungel, meinem Tod überlassen.«
Die Messerspitze schwebte über Bournes Kehle.»Unzählige Male war ich dem Tod nahe. Ich wäre auch gestorben, hätte ich mich nicht an die Erinnerung an dich klammern können.«
«Wage nicht, seinen Namen noch mal zu gebrauchen! Joshua ist tot!«Bourne war blass vor Zorn, fletschte in tierischer Wut die Zähne. Blutgier trübte sein Sehvermögen.
«Vielleicht ist er das. «Die Messerklinge berührte jetzt Bournes Haut. Einen Millimeter tiefer, dann würde sie eine blutende Wunde hinterlassen.»Ich bin jetzt Chan. Joshua — der Joshua, den du gekannt hast — ist tot. Ich bin zurückgekommen, um mich zu rächen, um dich dafür zu bestrafen, dass du mich verlassen hast. Ich hätte dich in den letzten Tagen ein Dutzend Mal liquidieren können, aber ich habe abgewartet, weil du vor deinem Tod erfahren sollst, was du mir angetan hast. «In Chans rechtem Mundwinkel hatte sich eine unbeachtete Speichelblase gebildet, die stetig größer wurde.»Warum hast du mich im Stich lassen? Warum bist du einfach abgehauen?«
Ein gewaltiger Ruck ging durch das Flugzeug, als es beim Start zu rollen begann. Von der Klinge spritzte Blut, als sie Bournes Haut zerschnitt; dann war sie auf einmal nicht mehr da, weil Chan das Gleichgewicht verlor. Das nützte Bourne zu einem Faustschlag aus, der Chans Rippen traf. Chan machte eine Sichelbewegung mit dem linken Fuß, hakte ihn hinter Bournes Knöchel und brachte ihn so zu Fall. Die Maschine wurde langsamer, bog vom Rollweg auf die Startbahn ab und bremste am Haltepunkt.
«Ich bin nicht abgehauen!«, brüllte Bourne.»Joshua ist mir weggenommen worden!«
Chan warf sich auf ihn. Das Messer zuckte herab. Bo-urne verdrehte im letzten Augenblick den Körper, sodass die Klinge an seinem rechten Ohr vorbeiging. Er dachte verzweifelt an die Keramikpistole an seiner rechten Hüfte, aber sosehr er sich auch abmühte, er schaffte es nicht, sie zu ziehen, weil er unablässig tödliche Angriffe abwehren musste. Sie kämpften mit geschwellten Muskeln, mit vor Anstrengung und Wut geröteten Gesichtern. Ihre Atemzüge kamen keuchend aus halb geöffneten Mündern; ihre Augen und ihr Verstand suchten die winzigste Lücke in der gegnerischen Deckung, während sie angriffen und sich verteidigten, nur um jedes Mal zurückgeschlagen zu werden. Sie waren einander gleichwertig, wenn auch nicht nach Jahren, dann doch in Bezug auf Schnelligkeit, Kraft, Können und List. Es war, als wüssten sie, was der andere dachte, als könnten sie seine Reaktionen jeweils Bruchteile von Sekunden vorhersehen und so jeden gesuchten Vorteil neutralisieren. Sie kämpften nicht leidenschaftslos, daher kämpften sie nicht auf höchstem Niveau. Alle ihre Gefühle waren an die Oberfläche gespült worden und überlagerten ihr Bewusstsein wie eine Ölschicht ein sonst klares Gewässer.
Das Flugzeug ruckte nochmals; der Rumpf erzitterte, als es beim Start mit aufheulenden Triebwerken beschleunigte. Bourne rutschte aus, und Chan benützte seine freie Hand als Keule, um Bourne von dem Messer abzulenken. Bourne konterte und traf die Innenseite von Chans linkem Handgelenk. Aber nun zuckte die Messerspitze auf ihn herab. Er wich mit einem Schritt zur Seite zurück und entriegelte dabei unabsichtlich die Frachtraumluke. Der an dem stetig beschleunigenden Flugzeug vorbeiströmende Luftstrom bewirkte, dass sich die entriegelte Tür öffnete.
Während die Startbahn verschwommen unter ihnen vorbeihuschte, imitierte Bourne mit ausgestreckten Armen und Beinen einen Seestern, wobei er den Türrahmen mit beiden Händen umklammerte. Chan ging wie besessen grinsend zum Angriff über, und das Messer beschrieb einen bösartigen flachen Bogen, der Bourne den ganzen Unterleib aufschlitzen würde.
Chan stürzte sich auf ihn, kurz bevor das Flugzeug von der Startbahn abhob. Im letzten möglichen Augenblick ließ Bourne mit der rechten Hand los. Sein Körper, der durch die Schwerkraft nach draußen und hinten getrieben wurde, schwang mit solcher Gewalt weg, dass Bourne fast die Schulter ausgerenkt wurde. Wo eben noch sein Körper gewesen war, klaffte jetzt eine Lücke, durch die Chan sich überschlagend auf den Asphalt stürzte. Bourne erhaschte noch einen letzten Blick auf ihn: nur eine graue Kugel auf dem schwarzen Untergrund der Startbahn.
Dann hob die Maschine ab, und der Luftstrom trieb Bourne nach oben, weiter von der offenen Luke weg. Er kämpfte dagegen an; der Regen peitschte sein Gesicht wie mit dünnen Ketten. Der Wind drohte ihm den Atem zu rauben, aber zugleich schrubbte er ihm das letzte Kerosin vom Gesicht, während der Regen seine brennenden Augen ausspülte und das Gift von seiner Haut, aus seinem Gewebe wusch. Als das Flugzeug sich in eine Rechtskurve legte, rollte Chans Stablampe über den Boden des Frachtraums und fiel hinter ihm her hinaus. Bourne wusste, dass er verloren war, wenn er nicht binnen Sekunden wieder in die Maschine gelangte. Der schreckliche Zug an seinem linken Arm war viel zu gewaltig, um sehr viel länger ertragen zu werden.
Er schwang ein Bein nach vorn und schaffte es, die linke Ferse hinter dem Türrahmen zu verankern. Dann zog er sich mit atemloser Anstrengung nach vorn, während seine Kniekehle an dem erhöhten Türrahmen anlag, und verschaffte sich so genug Halt und Hebelkraft, um sich zu drehen, bis er dem Rumpf zugewandt war. Sobald seine rechte Hand auf der Türabdichtung lag, konnte er sich in den Frachtraum hinein vorarbeiten. Zuletzt knallte er die Luke wieder zu.
Bourne — am ganzen Körper mit Prellungen übersät, blutend und starke Schmerzen leidend — brach als erschöpftes Bündel Mensch zusammen. In der beängstigenden, turbulenten Dunkelheit des stark vibrierenden Flugzeugrumpfs glaubte er immer wieder, den kleinen aus Stein geschnittenen Buddha zu sehen, den seine erste Frau und er Joshua zum vierten Geburtstag geschenkt hatten. Dao hatte gewollt, der Geist Buddhas möge ihren Sohn von frühester Kindheit an erfüllen. Joshua, der mit Dao und seiner kleinen Schwester gestorben war, als ein feindliches Flugzeug sie in dem Fluss, in dem sie gebadet hatten, angegriffen hatte.
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