Bourne spähte vorsichtig um die Ecke der nächsten Reihe von Spinden und sah Ralph barfuß zu den Duschen tapsen. Ihm etwas näher seifte sich ein weiterer Mann vom Flughafenpersonal ein, wobei er Bourne und Ralph den Rücken zukehrte. Als Bourne sich umsah, entdeckte er sofort Ralphs Spind. Die Tür stand einen Spalt weit offen, das Zahlenschloss hing geöffnet am Türgriff selbst. Natürlich. Was war an einem sicheren Ort wie diesem zu befürchten, wenn man seinen Spind für ein paar Minuten unverschlossen ließ, während man unter der Dusche stand? Bourne zog die Tür weiter auf und sah Ralphs Dienstausweis auf seinem Unterhemd auf einer Metallablage liegen. Er steckte ihn ein. Ganz in der Nähe stand der ebenfalls offene Spind des zweiten Duschenden. Bourne vertauschte die Schlösser, ließ das an Ralphs Spindtür einschnappen. Das würde den Busfahrer hoffentlich so lange daran hindern, den Diebstahl seines Dienstausweises zu bemerken, wie Bourne ihn voraussichtlich brauchen würde.
Er schnappte sich einen der vom Bodenpersonal getragenen Overalls aus dem offenen Wagen für Schmutzwäsche, kontrollierte, ob die Größe ungefähr stimmte, und zog sich rasch um. Dann verließ er mit Ralphs Dienstausweis um den Hals den Umkleideraum und ging eilig zum Zoll weiter, wo auf einem Monitor die nächsten planmäßigen Flüge angezeigt waren. Nach Budapest ging keiner, aber Flug 113 von Rush Service nach Paris sollte in achtzehn Minuten von Cargo vier aus starten. In den kommenden neunzig Minuten war dies der einzige Flug, aber Paris gehörte zu den großen Drehkreuzen des europäischen Luftverkehrs, das war auch in Ordnung. Von dort aus würde er leicht nach Budapest kommen.
Bourne hastete auf das nass glänzende Vorfeld hinaus. Es goss jetzt in Strömen, aber er sah keine Blitze, und auch der Donner, den er zuvor gehört hatte, war verstummt. Das war gut, denn er wollte nicht, dass Flug 113 aus irgendwelchen Gründen verspätet startete. Er ging schneller und hielt auf das nächste Gebäude zu, in dem Cargo drei und vier untergebracht waren.
Als er das Terminal betrat, war er nass bis auf die Haut. Ein kurzer Blick nach links und rechts, dann strebte er dem Abfertigungsbereich von Rush Service zu. Hier waren nur wenige Leute unterwegs, was nicht gut war. Es war immer leichter, in einer Menge unterzutauchen, als sich einigen wenigen Leuten anpassen zu müssen. Er fand den Eingang für Berechtigte, steckte Ralphs Dienstausweis in den Schlitz, hörte das erfreuliche Klicken, mit dem das Schloss sich öffnete, stieß die Tür auf und ging hindurch. Als er auf gewundenem Weg den Korridoren aus Hohlblocksteinen folgte, die zwischen Lagerräumen mit hohen Kistenstapeln hindurchführten, wurden die Gerüche von harzigem Holz, Sägemehl und Pappe fast überwältigend stark. Überall herrschte eine Atmosphäre von Vergänglichkeit, ein Gefühl von ständiger Bewegung, von Menschenleben, die von Flugplänen und dem Wetter abhängig waren, und von Besorgnis wegen möglicher technischer und menschlicher Fehler. Hier gab es nirgends Sitzgelegenheiten, nirgends einen Platz zum Ausruhen.
Bourne sah weder links noch rechts und bewegte sich mit zielbewusster Autorität, die niemand anzweifeln würde. Bald erreichte er eine weitere Tür, diesmal eine Stahltür, in die ein kleines Fenster eingelassen war. Durchs Fenster konnte er auf dem Vorfeld Frachtflugzeuge sehen, die be- oder entladen wurden. Er brauchte nicht lange, um die Maschine von Rush Service ausfindig zu machen, deren Frachtraumtür noch offen stand. Von dem Flugzeug führte ein dicker Schlauch zu einem Tankwagen. Ein Mann in gelber Regenjacke mit hochgeschlagener Kapuze überwachte den Tankvorgang. Pilot und Kopilot waren im Cockpit und führten die Vorflugkontrollen durch.
Als er gerade Ralphs Dienstausweis in den Schlitz stecken wollte, klingelte Conklins Handy. Der Anrufer war Robbinet.
«Jacques, wies aussieht, bin ich bald in deine Richtung unterwegs. Kannst du mich um… in ungefähr sieben Stunden am Flughafen abholen?«
«Mais oui, mon ami. Ruf mich an, wenn du gelandet bist. «Er gab Bourne seine Handynummer.»Ich freue mich sehr, dich schon so bald wiederzusehen.«
Bourne wusste, was Robbinet damit meinte. Er freute sich, dass es ihm gelungen war, durchs Netz der Agency zu schlüpfen. Noch nicht, dachte Bourne. Noch nicht ganz. Aber bald war es so weit. Bis dahin…
«Jacques, was hast du rausgekriegt? Hast du in Erfahrung bringen können, was NX 20 ist?«
«Nein, leider nicht. Ein Projekt mit dieser Bezeichnung ist nirgends bekannt.«
Bournes Herz sank.»Was ist mit Dr. Schiffer?«
«Ah, da habe ich etwas mehr Glück gehabt«, sagte Robbinet.»Ein Dr. Felix Schiffer arbeitet bei der DARPA — oder hat es zumindest getan.«
Eine kalte Hand schien nach Bournes Herz zu greifen.»Was soll das heißen?«
Bourne hörte Papier rascheln und konnte sich vorstellen, wie sein Freund in den Informationen blätterte, die seine Washingtoner Quellen ihm übermittelt hatten.»Dr. Schiffer steht nicht mehr auf der Liste der DARPA. Er ist dort vor dreizehn Monaten ausgeschieden.«
«Was macht er seitdem?«
«Keine Ahnung. Kein Mensch weiß, wo er steckt.«
«Er ist spurlos verschollen?«, fragte Bourne ungläubig.
«Genau das scheint passiert zu sein, so unglaublich das heutzutage klingen mag.«
Bourne schloss kurz die Augen.»Nein, nein. Er ist noch irgendwo — er muss irgendwo sein.«
«Aber was…?«
«Er ist >verschwunden< worden — von Profis.«
Da Felix Schiffer verschwunden war, musste er so schnell wie möglich nach Budapest. Sein einziger Hinweis war der Schlüssel aus dem Grandhotel Danubius. Er sah auf seine Uhr. Die Zeit drängte. Er musste los. Sofort.»Danke, dass du dich so für mich exponiert hast, Jacques.«
«Tut mir Leid, dass ich nicht mehr für dich tun konnte. «Robbinet zögerte.»Jason…«
«Ja?«
«Bonne chance.«
Bourne steckte das Handy ein, stieß die mit Edelstahl beplankte Tür auf und trat in das schwere Wetter. Aus tief hängenden, dunklen Wolken goss es in Strömen; im Licht der Vorfeldbeleuchtung bildete der schräg fallende Regen silbrig schimmernde Schleier, lief in glitzernden Bächen über Unebenheiten im Asphalt. Er ging wegen des Windes leicht nach vorn gebeugt, aber mit dem sicheren Schritt eines Mannes, der seine Aufgabe kennt und sie rasch und effektiv erledigen will. Als er um den Bug der Maschine kam, konnte er die offene Frachtraumtür vor sich sehen. Der Mann, der das Flugzeug betankte, war eben fertig und hatte den Schlauch abgeschraubt.
Aus dem Augenwinkel heraus nahm Bourne Bewegungen links von sich wahr. Eine der Türen von Cargo vier wurde aufgestoßen, und mehrere Sicherheitsbeamte kamen mit schussbereiten Waffen aufs Vorfeld gestürmt. Ralph musste seinen Spind endlich aufbekommen haben. Bournes Zeit war fast abgelaufen. Trotzdem behielt er sein gleichmäßiges Tempo bei. Er hatte die Frachtraumtür schon fast erreicht, als der Tankwagenfahrer ihn ansprach:»He, Kumpel, kannst du mir sagen, wie spät es ist? Meine Uhr ist stehen geblieben.«
Bourne drehte sich um. Im selben Augenblick erkannte er die asiatischen Züge unter der Kapuze. Chan spritzte ihm einen Strahl Kerosin ins Gesicht. Bourne riss verspätet die Hände hoch, würgte krampfhaft und war geblendet.
Chan stürzte sich auf ihn, drängte ihn gegen die regennasse Metallbeplankung des Flugzeugrumpfs zurück. Er brachte zwei brutale Boxhiebe an, von denen einer Bournes Solarplexus und der andere seine linke Kopfseite traf. Als Bourne auf die Knie sank, stieß Chan ihn in den Frachtraum.
Chan drehte sich um und sah einen Mann von Rush Service auf sich zukommen. Er hob einen Arm.»Alles okay, ich schließe hier ab«, sagte er. Dabei hatte er Glück, weil der Regen es erschwerte, sein Gesicht oder seine Uniform zu erkennen. Der Mann vom Frachtdienst, der froh war, aus Wind und Regen herauszukommen, hob dankend die Hand. Chan knallte die Frachtluke zu und verriegelte sie. Dann spurtete er zu dem Tankwagen hinüber und fuhr ihn so weit von der Maschine weg, dass er sie beim Rollen nicht behinderte.
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