In der Viertelstunde, die er nun schon hier war, hatte er ein Dutzend Verdächtige in Zivil gesehen. Einige patrouillierten in den Abflugbereichen und tranken aus Pappbechern Kaffee, als könnten sie so mit Zivilisten verwechselt werden. Die meisten standen jedoch in der Nähe der Check-in-Schalter der Fluggesellschaften und musterten die Fluggäste, die dort Schlange standen, um ihr Gepäck abzugeben und ihre Bordkarte in Empfang zu nehmen. Bourne erkannte fast augenblicklich, dass es für ihn unmöglich sein würde, an Bord einer Passagiermaschine zu gehen. Doch welche Alternative hatte er sonst? Er musste so schnell wie möglich nach Budapest.
Bourne trug eine beige Sommerhose, einen billigen durchsichtigen Regenmantel über einem schwarzen Rollkragenpullover und Top-Sider-Schuhe von Sperry statt der Laufschuhe, die er mit den übrigen Klamotten, die er im Wal-Mart getragen hatte, in einen Abfallbehälter gestopft hatte. Weil er dort erkannt worden war, hatte er sein Aussehen möglichst schnell verändern müssen. Aber nachdem er die Situation im Terminal begutachtet hatte, war er mit der Wahl seiner Garderobe ganz und gar nicht zufrieden.
Er wich den patrouillierenden Agenten aus, ging in die von feinem Nieselregen erfüllte Nacht hinaus und bestieg einen Shuttlebus, der ihn zum Frachtterminal bringen würde. Er setzte sich hinter den Fahrer und begann eine Unterhaltung mit ihm. Der Busfahrer hieß Ralph. Bourne stellte sich als Joe vor. Als der Bus an einem Zebrastreifen halten musste, schüttelten sie sich kurz die Hand.
«He, ich will meinen Cousin bei OnTime Cargo besuchen«, sagte Bourne,»aber dämlich wie ich bin, hab ich die Wegbeschreibung verloren.«
«Was isser dort?«, fragte Ralph, während er auf die Überholspur wechselte.
«Er ist Pilot. «Bourne rückte etwas näher.»Er wollte unbedingt zu American oder Delta, aber Sie wissen ja, wie so was läuft.«
Ralph nickte mitfühlend.»Die Reichen werden reicher, und die Armen werden beschissen. «Er hatte eine
Knopfnase, einen widerspenstigen Haarschopf und dunkle Ringe unter den Augen.»Wem erzählen Sie das?«
«Okay, können Sie mir sagen, wie ich dort hinkomme?«
«Ich kann mehr als das«, sagte Ralph, indem er Bournes Blick in seinem langen Rückspiegel erwiderte.»Am Frachtterminal ist meine Schicht zu Ende. Ich bringe Sie hin.«
Chan stand im gleißend hellen Licht der Flughafenbeleuchtung im Regen und durchdachte die Situation. Bourne würde die Agenten gewittert haben, noch bevor sie ihn entdeckten. Chan hatte über fünfzig gezählt, was vermutlich bedeutete, dass in anderen Bereichen des Flughafens dreimal so viele im Einsatz waren. Bourne würde wissen, dass er niemals durch ihr Spalier hindurch an Bord einer ins Ausland fliegenden Maschine gelangen würde, selbst wenn er seine Kleidung noch so sehr veränderte. Im Wal-Mart war er erkannt worden; sie wussten jetzt, wie er aussah, das hatte Chan in der Unterführung gehört.
Er konnte Bourne in der Nähe fühlen. Nachdem er neben ihm auf der Parkbank gesessen und sein Gewicht, seinen Knochenbau, sein Muskelspiel, die Verteilung von Licht und Schatten auf seinem Gesicht in sich aufgenommen hatte. Er wusste, dass er hier war. In der kurzen Zeit ihres Beisammenseins hatte er heimlich Bournes Gesicht studiert. Ihm war bewusst gewesen, dass er sich dringend alle Umrisse und ihre Veränderung durch das Mienenspiel des anderen einprägen musste. Was hatte er in Bournes Gesichtsausdruck gesucht, als er sein lebhaftes Interesse bemerkt hatte? Bestätigung? Respekt? Das wusste er nicht einmal selbst. Er wusste nur, dass Bournes Ge-sicht zu einem Bestandteil seines Bewusstseins geworden war. Was auch geschehen mochte, Bourne hatte ihn in seiner Gewalt. Sie waren gemeinsam aufs Rad ihrer eigenen Begierden geflochten und würden es bleiben, bis der Tod sie erlöste.
Chan sah sich nochmals um. Bourne musste die Stadt, vielleicht sogar das Land verlassen. Aber die Agency würde ihr Personal verstärken, um die Fahndung auszudehnen, während sie gleichzeitig versuchte, das Netz enger zu ziehen. Chan an seiner Stelle hätte das Land so schnell wie möglich verlassen wollen, deshalb machte er sich auf den Weg zum internationalen Ankunftsgebäude. Im Terminal stand er vor einem riesigen, farbig kodierten Plan des Flughafens und suchte den kürzesten Weg zum Frachtterminal heraus. Da die internationalen Flüge bereits scharf überwacht wurden, lag Bournes beste Chance, von diesem Flughafen wegzukommen, an Bord einer Frachtmaschine. Dabei musste er sich jetzt beeilen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Agency erkannte, dass er nicht versuchen würde, an Bord eines Passagierflugzeugs zu gelangen, und prompt anfangen würde, auch die Frachtterminals zu überwachen.
Chan ging wieder in den Regen hinaus. Nachdem er festgestellt hatte, welche Maschinen in der kommenden Stunde starten würden, brauchte er nur noch auf Bourne zu achten und ihn — wenn er richtig vermutet hatte — zu erledigen. Er hegte keine Illusionen mehr darüber, wie schwierig diese Aufgabe sein würde. Zu seinem großen Schock und Verdruss hatte Bourne sich als cleverer, entschlossener und einfallsreicher Gegner erwiesen. Er hatte Chan wehgetan, hatte ihn sogar gefangen, war ihm mehr als einmal entwischt. Chan wusste, dass Bourne mit sei-nem Angriff rechnete. Diesmal würde er ihn überraschen müssen, wenn er Erfolg haben wollte. In seinem Kopf glaubte er die Stimme des Dschungels zu hören, die ihn rief, die ihre Botschaft von Tod und Verderben wiederholte. Das Ende seines langen Trecks war in Sicht. Er würde Jason Bourne dieses eine letzte Mal überlisten.
Bourne war der einzige Fahrgast, als sie die Endstation erreichten. Der Regen war stärker geworden, und der Nachmittag ging in eine frühe Abenddämmerung über. Der Hirnmel war eintönig schiefergrau: eine leere Tafel, auf die jetzt jede Zukunft geschrieben werden konnte.
«On Time Cargo ist mit FedEx, Lufthansa und dem Zoll im Cargo fünf. «Ralph fuhr seinen Bus auf die Parkfläche und stellte die Zündung ab. Sie stiegen aus und hasteten im Regen über den Asphalt zu einem der riesigen hässlichen Flachdachbauten hinüber.»Gleich hier drin.«
Sie betraten das Gebäude, und Ralph schüttelte den Regen von sich ab. Er war ein Mann mit birnenförmiger Figur und merkwürdig zierlichen Händen und Füßen. Jetzt deutete er nach links.»Sehen Sie, wo der Zoll ist? Zwei Stationen weiter das Gebäude entlang finden Sie Ihren Cousin.«
«Vielen Dank«, sagte Bourne.
Ralph zuckte mit den Schultern und grinste.»Keine Ursache, Joe. «Er streckte ihm die Hand hin.»Freut mich, dass ich Ihnen helfen konnte.«
Als der Busfahrer mit den Händen in den Hosentaschen davonschlenderte, machte Bourne sich auf den Weg zu OnTime Cargo. Aber er hatte nicht die Absicht, dort hinzugehen — zumindest nicht gleich. Stattdessen machte er kehrt und folgte Ralph zu einer Tür mit der Aufschrift
KEIN ZUTRITT FÜR UNBEFUGTE — ZUTRITT NUR FÜR PERSONAL. Während er beobachtete, wie Ralph seinen laminierten Dienstausweis in einen Metallschlitz steckte, zog er eine Kreditkarte aus der Tasche. Die Tür ließ sich öffnen, und als Ralph nach drinnen verschwand, huschte Bourne lautlos nach vorn und steckte die Kreditkarte in den Schlitz. Die Tür schloss sich wie vorgesehen automatisch, aber die Kreditkarte verhinderte, dass das Schloss einschnappte. Er zählte in Gedanken bis dreißig, um sicherzugehen, dass Ralph nicht mehr in der Nähe der Tür war. Dann stieß er sie auf und steckte seine Kreditkarte wieder ein, als er hindurchging.
Hinter der Tür lag der Umkleide- und Duschraum des Flughafenpersonals. Die Wände waren weiß gekachelt; den Betonboden bedeckte eine wabenförmige Gummimatte, damit die Füße der Männer auf dem Weg zu und von den Duschen trocken blieben. Vor ihm standen acht Reihen von Metallspinden in Standardausführung, die meisten mit einfachen Zahlenschlössern gesichert. Rechts hinten führte ein Durchgang zu den Waschbecken und Duschkabinen. In einem kleinen Raum am Ende des Flurs befanden sich die Toiletten.
Читать дальше