«Keiner verlässt das Gelände!«, brüllte er.
Bourne ignorierte ihn, nahm den Fuß nicht vom Gaspedal. Er durfte es nicht auf eine persönliche Konfrontation mit Lindros ankommen lassen; als erfahrener Agent konnte der Mann seine Tarnung durchschauen.
Lindros zog seine Dienstwaffe. Bourne sah ihn winkend und schreiend zu dem verzinkten Stahltor rennen, durch das der Sattelschlepper würde fahren müssen.
Als Reaktion auf seine gebrüllten Befehle schlossen die beiden am Tor stationierten Beamten der Virginia State Police hastig die Torflügel, während ein CIA-Fahrzeug sich einen Weg durch die Absperrung auf der New York Avenue bahnte, um den Sattelschlepper abzufangen.
Bourne trat das Gaspedal ganz durch, und der unbela-dene Sattelschlepper beschleunigte schwerfällig. Die Cops sprangen im letzten Augenblick zur Seite, als er das geschlossene Tor durchbrach und seine Flügel aus den Angeln riss, sodass sie hoch durch die Luft wirbelten und auf beiden Seiten des Sattelschleppers auf den Asphalt krachten. Er schaltete herunter, bog scharf rechts ab und raste, weiter beschleunigend, die Straße entlang davon.
Ein Blick in die übergroßen Außenspiegel des Fahrzeugs zeigte ihm, wie die CIA-Limousine langsamer wurde. Die Beifahrertür wurde aufgestoßen, und Lindros sprang hinein und knallte die Tür hinter sich zu. Der Wagen beschleunigte wie eine Rakete, er holte den Sattelschlepper mühelos ein. Bourne wusste, dass er nicht hoffen durfte, die Verfolger mit diesem schwerfälligen Ungetüm abzuhängen, aber seine schiere Größe, die in Bezug auf Geschwindigkeit nachteilig war, konnte in anderer Beziehung vorteilhaft sein.
Er ließ zu, dass die Limousine ihm mit geringem Abstand folgte. Dann beschleunigte sie plötzlich und schob sich entlang der linken Seite des Sattelschleppers nach vorn. Im Außenspiegel sah er, wie Martin Lindros, dessen Lippen vor Konzentration einen schmalen Strich bildeten, seine Pistole in einer Hand hielt, wobei die andere das Handgelenk umfasste, um die Waffe zu stabilisieren. Im Gegensatz zu Schauspielern in Actionfilmen wusste er, wie man aus einem schnell fahrenden Auto schoss.
Als er eben abdrücken wollte, lenkte Bourne sein Fahrzeug mit einem kurzen Schlenker nach links. Die Limousine prallte seitlich gegen den Sattelschlepper; Lindros hielt seine Pistole senkrecht, während der Fahrer darum kämpfte, nicht die am linken Straßenrand geparkten Autos zu rammen.
Sobald der Fahrer die Limousine abgefangen hatte, begann Lindros aufs Fahrerhaus des Sattelschleppers zu schießen. Der Schusswinkel war ungünstig, und er konnte nicht ruhig zielen, aber der Feuerhagel genügte, um Bourne zu veranlassen, rechts abzubiegen. Ein Geschoss hatte das linke Seitenfenster zersplittern lassen; zwei wei-tere hatten die Rückenlehne durchschlagen und den bewusstlosen Trucker getroffen.
«Gottverdammt noch mal, Lindros«, sagte Bourne. Auch wenn er sich in einer Notlage befand, wollte er nicht am Tod eines unbeteiligten Mannes schuld sein. Er war bereits nach Westen unterwegs; das George Washington University Hospital in der 23 rdStreet war nicht mehr allzu weit entfernt. Er bog erneut rechts und dann wieder links auf die K Street ab, donnerte weiter und benützte seine Druckluftfanfare, während er rote Ampeln überfuhr. In der i8 thStreet überhörte ein Autofahrer, der vermutlich halb schlafend am Steuer saß, dieses Warnsignal und knallte rechts gegen das Heck des Sattelschleppers. Bourne geriet gefährlich ins Schleudern, brachte das schwere Fahrzeug wieder auf Kurs und raste weiter. Lindros’ Wagen blieb weiter hinter ihm, konnte aber nicht vorfahren, weil die K Street mit ihrem bepflanzten Mittelstreifen zu schmal war, als dass der Fahrer sich seitlich hätte nach vorn schieben können.
Als er die 20 thStreet überquerte, konnte er die unter dem Washington Circle hindurchführende Unterführung sehen. Von dort aus war das Krankenhaus nur noch einen Straßenblock weit entfernt. Ein Blick in den Außenspiegel zeigte ihm, dass die CIA-Limousine nicht mehr hinter ihm war. Bourne hatte auf der 22 ndStreet zum University Hospital fahren wollen, aber als er eben zum Abbiegen ansetzte, sah er die Limousine auf der 22 ndStreet auf sich zurasen. Lindros beugte sich weit aus dem Beifahrerfenster und begann in seiner methodischen Art zu schießen.
Bourne trat das Gaspedal nochmals durch, und der Sattelschlepper schoss vorwärts. Jetzt musste er die Unterführung benützen und das Krankenhaus von der anderen Seite aus anfahren. Aber als er auf die Unterführung zufuhr, merkte er, dass hier etwas nicht stimmte. Der Tunnel unter dem Washington Circle war völlig finster; vom anderen Ende aus fiel kein Tageslicht herein. Das konnte nur eines bedeuten: Dort vorn war eine Straßensperre errichtet worden — eine Barriere aus großen Fahrzeugen quer über beide Fahrspuren der K Street.
Er raste in die Unterführung hinein, schaltete herunter und trat erst kräftig auf die Bremse, als er von Dunkelheit umgeben war. Gleichzeitig ließ er einen Handballen auf dem Knopf für die Druckluftfanfare. Ihr Dröhnen wurde von Stein und Beton zurückgeworfen, bis es ohrenbetäubend war und das Quietschen der Reifen übertönte, als Bourne das Lenkrad nach links riss und die Mittelleitplanke niederwalzte, sodass der Sattelschlepper quer zu den Fahrbahnen stehen blieb. Er war mit einem Satz aus dem Fahrerhaus und spurtete zur Nordwand der Unterführung hinüber. Der zwischen ihm und der Straßensperre quer stehende Sattelschlepper reichte von einer Tunnelwand bis zur anderen über beide Fahrspuren der K Street. Bourne tastete nach der für Wartungsarbeiten an der Wand festgeschraubten Stahlleiter, zog sich auf die unterste Sprosse hoch und begann die Leiter zu erklettern, als die ersten Suchscheinwerfer aufleuchteten. Er drehte den Kopf zur Seite, schloss die Augen und kletterte weiter.
Wenige Augenblicke später sah er die Scheinwerfer, die den Sattelschlepper und den Asphalt darunter beleuchteten. Bourne, nun fast auf gleicher Höhe mit dem Scheitelpunkt der Fahrbahn, konnte Martin Lindros erkennen. Als er in sein Handfünkgerät sprach, flammten auch am anderen Ende des Tunnels Suchscheinwerfer auf. Sie hatten den Sattelschlepper in einem Zangengriff. Von beiden Enden der K Street kamen CIA-Agenten mit schussbereiten Waffen angerannt.
«Sir, im Fahrerhaus liegt jemand. «Der Agent kletterte zu ihm hinauf.»Er ist angeschossen und blutet ziemlich stark.«
Lindros rannte zum Führerhaus. Auf seinem Gesicht stand Anspannung, als er ins Scheinwerferlicht kam.»Ist’s Bourne?«
Hoch über ihnen erreichte Bourne das Mannloch mit dem Eisendeckel. Als er den Riegel zurückzog und den Deckel hochstemmte, befand er sich unter den dekorativen Bäumen, die den Washington Circle am Rand umgaben. Um ihn herum brauste der Verkehr: eine unerbittliche, niemals endende Prozession von leicht verschwommenen Fahrzeugen. Im Tunnel unter ihm wurde der verletzte Trucker geborgen und ins nahe University Hospital gebracht. Nun wurde es Zeit, dass Bourne sich selbst rettete.
Chan hatte zu viel Respekt vor David Webbs Fähigkeit gewonnen, sich unsichtbar zu machen, als dass er Zeit mit dem Versuch vergeudet hätte, ihn im Menschengewühl der Old Town zu finden. Stattdessen konzentrierte er sich auf die CIA-Agenten und folgte ihnen bis zu Lincoln Fine Tailors zurück, wo sie mit Martin Lindros zur trübseligen Schlussbefragung nach einem verpatzten Einsatz zusammentrafen. Er beobachtete, wie sie mit dem Schneider sprachen. In Übereinstimmung mit bewährten Einschüchterungsmethoden hatten sie ihn aus seiner gewohnten Umgebung geholt — in diesem Fall aus seinem Laden — und auf den Rücksitz eines ihrer Fahrzeuge gesetzt, um ihn ohne Erklärung, beengt zwischen zwei Agenten hockend, schmoren zu lassen. So viel Chan aus den Gesprächen zwischen Lindros und seinen Agenten schließen konnte, hatten sie nichts Brauchbares aus dem Schneider herausbekommen. Er behauptete, die Agenten hätten seinen Laden so schnell erreicht, dass Webb ihm gar nicht habe sagen können, weshalb er gekommen sei. Deshalb empfahlen die Agenten seine Freilassung. Lindros war einverstanden gewesen, aber nachdem der Schneider in sein Geschäft zurückgekehrt war, hatte er für den Fall, dass Webb versuchte, nochmals mit ihm Kontakt aufzunehmen, zwei neue Agenten in einem neutralen Fahrzeug auf der gegenüberliegenden Straßenseite postiert.
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