«Das ist noch so eine Sache!«, brüllte Lindros.»Was zum Teufel hat er dort zu suchen gehabt?«
«Erzählen Sie mir’s doch, Klugscheißer. Sie haben das Unternehmen in Alexandria verpatzt. Hätten Sie sich die Mühe gemacht, mich zu informieren, hätte ich Ihnen helfen können, die Old Town abzusuchen. Die kenne ich wie meine Hosentasche. Aber nein, Sie sind ein Fed, Sie wissen alles besser, Sie sind hier der Boss.«
«Da haben Sie verdammt Recht! Weil Sie untätig geblieben sind, habe ich veranlasst, dass das Personal von Flughäfen, Bahnhöfen, Busbahnhöfen und Autovermietungen alarmiert wird, damit es Ausschau nach Bourne hält.«
«Lächerlich! Selbst wenn Sie mir nicht die Hände auf den Rücken gefesselt hätten, wäre ich nicht berechtigt, diese Alarmierung zu veranlassen. Aber meine Männer suchen die nähere Umgebung ab, und wir wollen nicht vergessen, dass Sie allen diesen Stellen meine aktuelle Personenbeschreibung von Bourne übermittelt haben.«
Obwohl Harris Recht hatte, kochte Lindros weiter.»Ich verlange Auskunft, warum zum Teufel Sie die D.C. Metro Police in diese Sache hineingezogen haben. Hätten Sie Verstärkung gebraucht, hätten Sie sich an mich wenden müssen.«
«Warum zum Teufel hätte ich zu Ihnen kommen sollen, Lindros? Können Sie mir einen Grund dafür nennen? Sind Sie etwa mein alter Kumpel? Arbeiten wir gut zusammen, irgendwas in dieser Art? Scheiße, nein. «Auf Harris’ trübseligem Gesicht stand ein angewiderter Ausdruck.»Und damit Sie’s wissen: Ich habe den District Commander nicht angefordert. Wie ich Ihnen gesagt habe, ist er sofort über mich hergefallen und hat mich mit Schaum vor dem Mund beschuldigt, in seinem Revier zu wildern.«
Lindros hörte kaum, was er sagte. Der Krankenwagen fuhr mit Blinklicht und Sirenengeheul davon, um den Trucker, den er versehentlich angeschossen hatte, ins
George Washington University Hospital zu bringen. Sie hatten fast vierzig Minuten gebraucht, um die Umgebung zu sichern, sie als Tatort abzusperren und den Verletzten aus dem Fahrerhaus zu bergen. Würde er leben oder sterben? Darüber wollte Lindros jetzt nicht nachdenken. Man hätte einfach behaupten können, an seinen Verletzungen sei Bourne schuld — er wusste, dass der Alte so denken würde. Aber der Direktor war von einem Panzer aus zwei Teilen Pragmatismus und einem Teil Verbitterung umgeben, den Lindros sich hoffentlich nie Zulegen würde. Er wusste, dass niemand ihm die Verantwortung für das Schicksal des Truckers abnehmen konnte, und dieses wissen gab seiner Feindseligkeit neue Nahrung. Auch wenn er nicht den durch Zynismus gehärteten Panzer des Direktors besaß, dachte er nicht daran, sich Vorwürfe wegen Entscheidungen zu machen, die sich nicht mehr ändern ließen. Statt dessen verspritzte er sein Gift nach außen.
«Vierzig Minuten!«, knurrte Harris, als der Krankenwagen sich durch den Stau in der Unterführung schlängelte.»Jesus, das arme Schwein hätte inzwischen zehnmal sterben können. «Er schüttelte den Kopf.»Typisch öffentlicher Dienst!«
«In dem sind Sie auch, Harry, wenn ich recht informiert bin«, sagte Lindros gehässig.
«Sie vielleicht nicht?«
Lindros stieg die Galle hoch.»Hören Sie mal, Sie Dorftrottel, ich bin aus anderem Holz geschnitzt als ihr anderen. Meine Ausbildung.«
«Ihre ganze Ausbildung hat Ihnen nicht geholfen, Bourne zu fassen, Lindros! Sie hatten zwei Chancen, und Sie haben beide versiebt!«
«Und was haben Sie dazu beigetragen?«
Chan beobachtete, wie Lindros und Harris erregt miteinander diskutierten. In seinem Overall mit dem Namen eines Abschleppdiensts auf dem Rücken sah er genau wie alle anderen aus. Niemand interessierte sich für sein Kommen oder Gehen. Als er das Heck des Sattelschleppers begutachtete, als wolle er abschätzen, welchen Schaden der Wagen, der ihn gerammt hatte, angerichtet hatte, sah er im Schatten die an der Tunnelwand nach oben führende Leiter. Er verrenkte sich den Hals, um nach oben zu sehen. Wohin sie wohl führte? Hatte Bourne sich das auch gefragt — oder hatte er’s im Voraus gewusst? Chan sah sich um, vergewisserte sich, dass niemand ihn beobachtete, stieg dann die Leiter hinauf und gelangte rasch über die Polizeischeinwerfer, sodass ihn niemand mehr sehen konnte. Er fand das Mannloch und war nicht überrascht, als sich erwies, dass es vor kurzem entriegelt worden war. Er drückte den Deckel hoch und kletterte ins Freie.
Auf seinem Beobachtungspunkt am Washington Circle drehte er sich langsam im Uhrzeigersinn um die eigene Achse und suchte dabei die nähere und weitere Umgebung ab. Ein auffrischender Wind wehte ihm ums Gesicht. Der Himmel hatte sich weiter verfinstert und schien unter den Hammerschlägen des durch die Entfernung gedämpften Donners, der hin und wieder durch die Schluchten und über die europäisch breiten Avenuen der Großstadt rollte, dunkle Druckstellen zu bekommen. Im Westen lagen der Rock Creek Parkway, der Whitehurst Parkway und Georgetown. Im Norden ragten die modernen Türme der Hotelzeile auf — das ANA, Grand, Park, Hyatt und Marriott, dahinter das Rock Creek. Im Wes-ten verlief die K Street, die am McPherson Square und dem Franklin Park vorbeiführte. Und im Süden lagen der Foggy Bottom, die weitläufige George Washington University und der massive Monolith des Außenministeriums. Und in weiter Ferne, wo der Potomac River nach Osten abbog und breiter wurde, um das stille Nebengewässer des Tidal Basins zu bilden, sah er ein silbernes Sonnenstäubchen: ein fast bewegungslos in der Luft hängendes Flugzeug, das hoch über den sich zusammenballenden Wolken von einem letzten Sonnenstrahl beleuchtet wurde, bevor es den Landeanflug zum Washington National Airport begann.
Chans Nasenlöcher weiteten sich, als habe er die Witterung seiner Beute aufgenommen. Der Flugplatz musste Bournes Ziel sein. Kein Zweifel, denn an Bournes Stelle wäre er jetzt auch dorthin unterwegs gewesen.
Das schreckliche Wissen, dass David Webb und Jason Bourne ein und derselbe Mann waren, hatte ihn in Gedanken beschäftigt, seit er gehört hatte, wie Lindros und seine CIA-Kollegen darüber sprachen. Allein die Vorstellung, Bourne und er hätten denselben Beruf, erschien ihm empörend: als Entweihung seiner ganzen Existenz, die er sich mühsam aufgebaut hatte. Er war’s gewesen — und nur er allein —, der sich am eigenen Haar aus dem Sumpf des Dschungels gezogen hatte. Dass er jene hasserfüllten Jahre überlebt hatte, war allein schon ein Wunder. Aber zumindest hatte diese erste Zeit einzig und allein ihm gehört. Jetzt feststellen zu müssen, dass er sich die Bühne, die er zu erobern entschlossen war, ausgerechnet mit David Webb teilen musste, erschien ihm wie ein grausamer Scherz — und als himmelschreiende Ungerechtigkeit. Das war ein Unrecht, das möglichst schnell korrigiert werden musste. Jetzt konnte er’s nicht mehr erwarten, vor Bourne hinzutreten, ihm die Wahrheit ins Gesicht zu schleudern und in seinem Blick zu sehen, wie diese Enthüllung ihn von innen zersetzte, während Chan ihn verbluten ließ.
Bourne stand im Schatten des aus Stahl und Glas erbauten internationalen Abflugterminals. Der Washington National Airport war ein Tollhaus: Geschäftsleute mit Laptops und kleinen Rollenkoffern, Familien mit riesigem Gepäck, Kinder mit Micky-Maus-, Power-Ranger- oder TeddybärRucksäcken, ältere Leute in Rollstühlen, eine Gruppe Mormonenmissionare auf dem Weg in die Dritte Welt und Händchen haltende Liebespaare mit Flugtickets ins Paradies drängten und schoben sich durch die Halle. Doch trotz des Gewühls hatten Flughäfen stets etwas Leeres an sich. Deshalb sah Bourne nichts als leeres Starren: den nach innen gerichteten Blick, mit dem der Mensch sich instinktiv gegen grässliche Langeweile abschottet.
Eine Ironie, die Bourne nicht entging, war die Tatsache, dass auf Flughäfen, wo das Warten eine Institution war, die Zeit stillzustehen schien. Nur nicht für ihn. Jetzt zählte jede Minute, denn sie brachte ihn der Liquidierung durch genau die Leute näher, für die er früher gearbeitet hatte.
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