»Das hier ist vielleicht unsere einzige Hoffnung«, sagte er und wies auf die Glasscherben, die er am Crediton Hill auf dem Bürgersteig halb im Gebüsch gefunden hatte.
Barbara betrachtete sie prüfend. »Autoscheinwerfer?«
»In Anbetracht des Fundorts wohl eher nicht. Sie waren unter einer Hecke.«
»Sie haben vielleicht gar keine Bedeutung, Sir.«
»Ich weiß«, stimmte Lynley missmutig zu.
»Wo ist eigentlich Winnie? Hat er inzwischen irgendwas rausbekommen?«
»Er ist Katja Wolff auf den Fersen.« Lynley berichtete ihr, was Nkata ihm vor einigen Stunden mitgeteilt hatte.
Sie sagte: »Und - neigen Sie zur Wolff? Dann geht's aber, wie gesagt, nicht -«
»- um ihren Sohn, ich weiß. Was könnte ihr Motiv sein, wenn sie die Täterin ist?«
»Rache? Könnte es sein, dass die ihr den Mord damals fälschlicherweise angehängt haben?«
»Und Webberly mit ihnen? Um Gottes willen! Was für ein Gedanke!«
»Aber wenn er was mit Eugenie Davies hatte . « Barbara hatte ihre Kaffeetasse zum Mund geführt, aber sie trank nicht, sondern sah Lynley über den Rand der Tasse hinweg an. »Ich behaupte ja nicht, dass er es absichtlich getan hätte, Sir. Aber wenn er da irgendwie verstrickt war, könnte er ganz einfach geblendet gewesen sein, könnte - na ja, vielleicht manipuliert, an der Nase herumgeführt worden sein… Sie wissen schon.«
»Das würde bedeuten, dass auch die Kronanwaltschaft, die Geschworenen und der Richter an der Nase herumgeführt wurden«, wandte Lynley ein.
»So was soll schon vorgekommen sein«, versetzte Barbara.
»Und nicht nur einmal. Das wissen Sie doch auch.«
»Ja, gut. Akzeptiert. Aber warum hat sie nicht geredet? Wenn Beweise manipuliert oder falsche Aussagen gemacht wurden, warum hat sie dann den Mund nicht aufgemacht?«
»Tja, das ist die Frage, auf die wir immer wieder zurückkommen«, meinte Barbara seufzend.
»Genau.« Lynley nahm einen Bleistift aus seiner Brusttasche und schob mit ihm die Glasscherben auf dem Taschentuch herum. »Zu dünn für Autoscheinwerfer«, sagte er. »Ein Scheinwerfer aus solchem Glas würde zerspringen, wenn ihn nur ein kleines Steinchen trifft - auf der Schnellstraße zum Beispiel.«
»Glasscherben unter einer Hecke? Die stammen wahrscheinlich von einer Flasche. Da kommt einer mit einer Flasche Wein unterm Arm von einer Party. Er ist nicht mehr ganz nüchtern und torkelt. Die Flasche fällt runter, zerbricht, und er befördert die Scherben mit ein paar Fußtritten auf die Seite.«
»Aber das Glas ist nicht gekrümmt, Havers. Da, schauen Sie sich die größeren Scherben an. Keine Krümmung.«
»Okay, keine Krümmung. Aber wenn Sie hoffen, zwischen diesen Scherben und einem unserer Verdächtigen eine Verbindung zu entdecken, dann, denke ich, haben Sie ungefähr die gleichen Chancen wie ein Blinder im Nebel.«
Lynley wusste, dass sie Recht hatte. Er schob das Taschentuch wieder zusammen, steckte es ein und grübelte stumm vor sich hin. Er ließ einen Finger langsam auf dem Rand der Espressotasse kreisen, während er in das Restchen dunklen Satz auf ihrem Grund starrte.
Barbara verdrückte inzwischen ihr Schoko-Croissant, von dem nur ein paar Krümel auf ihren Lippen zurückblieben.
»Das tut den Arterien aber gar nicht gut, Constable«, sagte er.
»Und jetzt kommt die Lunge dran«, entgegnete sie, wischte sich mit einer Papierserviette den Mund ab und kramte ihre Zigaretten heraus. Ehe er protestieren konnte, sagte sie: »Das hab ich mir verdient. Es war ein langer Tag. Ich blas den Rauch über meine Schulter, okay?«
Lynley war zu niedergeschlagen, um sich mit ihr zu streiten. Gedanken an Webberlys Zustand bedrückten ihn, und kaum minder schwer lag ihm die neu gewonnene Gewissheit auf der Seele, dass Frances Webberly von der Liebesbeziehung ihres Mannes zu einer anderen Frau gewusst hatte. Er versuchte, diesen Gedanken zu entrinnen, indem er sagte: »Also, schauen wir uns jeden Einzelnen noch einmal genau an. Was haben Sie an Aufzeichnungen?«
Barbara blies ungeduldig eine Rauchwolke in die Luft. »Das haben wir doch schon durchexerziert, Inspector. Wir haben überhaupt nichts.«
»Aber wir müssen etwas haben«, entgegnete Lynley und setzte seine Lesebrille auf. »Ihre Aufzeichnungen, Havers.«
Unwillig holte sie ihr Heft aus der Umhängetasche, während Lynley seine eigenen Notizen aus seiner Jackentasche nahm. Sie begannen mit den Personen, die kein nachgewiesenes Alibi hatten.
Ian Staines war der erste Kandidat, den Lynley zu bieten hatte. Er brauchte dringend Geld, und seine Schwester hatte ihm versprochen, ihren Sohn darum zu bitten. Aber sie war von ihrer Zusage zurückgetreten und hatte Staines damit in größte Nöte gestürzt. »Er muss damit rechnen, sein Haus zu verlieren«, sagte Lynley. »Am Abend ihres Todes haben die beiden sich gestritten. Er könnte ihr nach London gefolgt sein. Er ist erst nach ein Uhr nachts nach Hause gekommen.«
»Aber der Wagen passt nicht«, wandte Barbara ein. »Es sei denn, er war mit einem anderen Fahrzeug in Henley.«
»Möglich wäre es«, meinte Lynley. »Er könnte es dort irgendwann früher abgestellt haben - nur für den Fall. Irgendjemand hat Zugang zu einem zweiten Wagen, Havers.«
Sie wandten sich dem vielnamigen J. W. Pitchley zu, Barbaras derzeitigem Lieblingsverdächtigen. »Was, zum Teufel, hatte seine Adresse in Eugenie Davies' Handtasche zu suchen?«, sagte sie mit Vehemenz. »Warum wollte die Frau zu ihm? Von Staines wissen wir, dass sie ihm sagte, es wäre was dazwischen gekommen. War das vielleicht Pitchley?«
»Möglich, aber wir haben bis jetzt keine Verbindung zwischen den beiden entdeckt. Nicht per Telefon, nicht übers Internet .«
»Schneckenpost?«
»Wie hat sie ihn überhaupt ausfindig gemacht?«
»Wie ich, Inspector. Sie hat sich gesagt, dass er wahrscheinlich wieder mal die Identität gewechselt hat.«
»Meinetwegen. Aber was für einen Grund hatte sie, ihn aufzusuchen?«
Barbara ließ alle Möglichkeiten, die sie bisher angeboten hatte, außer Acht und schlug einen völlig neuen Weg ein.
»Vielleicht arrangierte er die Zusammenkunft mit ihr, nachdem sie ihn aufgestöbert hatte. Und sie setzte sich mit ihm in Verbindung, weil…« Barbara ließ sich die verschiedenen Möglichkeiten durch den Kopf gehen und sagte schließlich: »Weil Katja Wolff gerade aus dem Knast entlassen worden war. Wenn die ganze verdammte Bande die Wolff reingelegt hatte und sie jetzt wieder auf freiem Fuß war, mussten sie sich was einfallen lassen, würde ich sagen… Zum Beispiel, wer sie übernehmen sollte, wenn sie sich meldete.«
»Aber da sind wir doch wieder an genau demselben Punkt, Havers. Ein ganzes Haus voll Leute tut sich zusammen, um eine Person zum Sündenbock eines Verbrechens zu machen, und diese Person sagt dann nicht ein einziges Wort zu ihrer eigenen Verteidigung? Warum nicht, Herrgott noch mal?«
»Angst vor dem, was sie ihr antun könnten? Der Großpapa scheint ja eine echte Horrorfigur gewesen zu sein. Vielleicht hatte er irgendwas gegen sie in der Hand. Er sagte: >Entweder du machst unser Spiel mit, oder wir bringen es an die Öffentlichkeit…<���« Barbara hielt einen Moment inne und verwarf dann ihren eigenen Einfall, indem sie sagte: »Was denn? Dass sie schwanger war? Na toll. Als hätte zu der Zeit noch ein Hahn danach gekräht. Es kam ja sowieso raus, dass sie schwanger war.«
Lynley hob eine Hand, um sie daran zu hindern, den Gedanken ganz fallen zu lassen. »Sie könnten auf der richtigen Spur sein, Barbara«, meinte er. »Vielleicht hieß es: >Entweder du machst unser Spiel mit, oder wir verraten, wer der Vater des Kindes ist, das du erwartest.««
»Na, ganz toll!«
»Richtig«, versetzte Lynley, »wenn man nämlich nicht gedroht hätte, es der Öffentlichkeit zu verraten, sondern Eugenie Davies.«
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