Auch heute sah sie sich wieder um und dachte voller Bitterkeit: So dürfte man ein Kind nicht aufwachsen lassen.
Marie Isnard trat mit der Kaffeekanne an den Tisch.»Hier, Kind. Das wird dir guttun. «Sie musterte ihre Tochter besorgt.»Du siehst sehr blaß aus. Hast du überhaupt geschlafen in der letzten Nacht?«
«Nicht so gut. Vielleicht liegt es am Wetter. Ich habe immer Probleme, wenn der Sommer in den Winter übergeht. Ist nicht meine beste Zeit.«
«Heute ist es besonders häßlich«, meinte Marie. Sie war im Bademantel, Nadine hatte sie noch im Bett angetroffen.»Mit Henri ist doch aber alles in Ordnung?«
«Es ist langweilig wie immer.«
«Na ja, nach fünfzehn Jahren… da ist keine Beziehung mehr aufregend.«
Marie setzte sich ebenfalls an den Tisch, schenkte sich und ihrer Tochter Kaffee ein. Sie hatte sich weder gewaschen noch gekämmt und sah nicht aus wie fünfzig, sondern wie Mitte sechzig. Um die Augen herum war sie stark verquollen, doch Nadine wußte, daß ihre Mutter nie Alkohol anrührte und daß die hängenden Lider und die dicken Tränensäcke nicht von derlei Ausschweifungen herrühren konnten. Marie mußte wieder einmal stundenlang geweint haben. Sie würde sich eines Tages noch einmal die Augen aus dem Kopf weinen.
«Mutter«, sagte Nadine,»warum gehst du nicht endlich fort aus diesem Haus?«
«Darüber haben wir schon so oft gesprochen. Ich lebe jetzt seit über dreißig Jahren hier. Warum sollte ich mich noch verändern?«
«Weil du mit fünfzig Jahren keine alte Frau bist, die sich in einer Einöde verkriechen sollte. Du könntest noch so viel aus deinem Leben machen.«
Marie fuhr sich mit den gespreizten Fingern ihrer linken Hand durch die Haare. Ihre kurz geschnittenen, fast schwarzen Locken standen wie ein Staubwedel in die Höhe.»Schau mich doch an! Was sollte ich denn noch aus meinem Leben machen?«
Tatsächlich war sie noch immer eine recht attraktive Frau, dies verbargen nicht einmal ihre schlampige Aufmachung und die verschwollenen Augen. Nadine wußte, daß ihre Mutter, Weinbauerntochter aus Cassis, einst als eines der schönsten Mädchen der Gegend gegolten hatte, und dies, wie Photos bewiesen, zu Recht. Sinnlich, lebensfroh, tatkräftig und ungeheuer strahlend. Kein Wunder, daß sich der ebenso sinnenfrohe und begehrte Michel Isnard in sie verliebte und sie schwängerte, als sie kaum siebzehn war. Auf das heftige Betreiben von Maries Vater heirateten die beiden und mußten sodann für sich und Baby Nadine eine Bleibe suchen.
Nadine verzieh es ihrem Vater später nie, daß er sich zu dieser Zeit plötzlich ein romantisches, altes Gemäuer in der Einsamkeit in den Kopf gesetzt hatte. Marie erzählte immer, er habe auf einmal nur noch von einem großen Stück Land geschwärmt, von Ziegen und Hühnern und einem Haus, das den Charme lang vergangener Zeiten atme…
So waren sie an die Bruchbude in Le Beausset gekommen, und Michel hatte verkündet, er werde den Innenausbau in Eigenarbeit übernehmen und ihnen ein gemütliches, schönes Zuhause schaffen. Es blieb im wesentlichen bei der Absichtserklärung. Michel hatte sich noch nie für körperliche Arbeit begeistern können. Intensiver denn je kümmerte er sich um sein kleines Antiquitätengeschäft in Toulon, war den ganzen Tag fort und schließlich auch die halben Nächte, und Nadine begriff erst nach Jahren, daß er sich in den späten Stunden vorwiegend attraktiven, jungen Touristinnen widmete, durch Kneipen, Diskotheken und Betten zog. Zu jener Zeit fing Marie an, nachts ihre Kissen naß zu weinen, und in gewisser Weise hörte sie damit nie wieder auf. Sie kümmerte sich um den unüberschaubar großen Garten, um die Hühner und Ziegen, die sich Michel so dringend gewünscht hatte, und um das kleine Mädchen, dessentwegen sie mit Anfang zwanzig bereits in einer unglücklichen Ehe festhing und anfing, verhärmt auszusehen.
Sie hatten kein fließendes Wasser im Haus, keinen Strom und nur ungenügend schließende Fenster. Michel hatte begonnen, ein Badezimmer anzulegen, war der Arbeit jedoch auf halbem Wege überdrüssig geworden. Ein paar Kacheln klebten an den Wänden, der Lehmfußboden wurde zur Hälfte von Fliesen bedeckt. Einmal — Nadine war sechs gewesen — brachte er stolz einen Spiegel mit nach Hause, eine schön gerahmte Antiquität.
«Für dich«, sagte er zu Marie, die zwei Nächte lang nicht gewußt hatte, wo er war, und verschwollene Augen hatte,»für dein Badezimmer.«
Es war das erste und einzige Mal gewesen, daß Nadine ihre Mutter als Furie erlebt hatte. Marie hatte ihren Mann angestarrt, als könne sie nicht fassen, was er da gerade sagte, oder als könne sie nicht begreifen, wie er sie derart arglos anlächeln konnte. Dann nahm sie den Spiegel in ihre beiden Hände und schmetterte ihn mit aller Kraft auf den steinernen Küchenfußboden. Glas und Rahmen sprangen in tausend Stücke.
«Mach das nie wieder!«brüllte sie. Die Adern auf ihrer Stirn traten hervor, und ihre Stimme überschlug sich.»Wage es nicht, mich noch einmal so zu beleidigen! Behalte deinen Mist für dich! Ich will keine Geschenke, ich will nichts! Nicht von dir! Ich kann auf dein dummes Grinsen verzichten und auf dein Gesäusle und auf all das, was ohnehin nichts wert ist!«
Nadine war in ihr Zimmer geflüchtet und hatte sich die Ohren zugehalten. Irgendwann, als es schon lange ganz still war im Haus, hatte sie sich wieder hervorgewagt und war in die Küche geschlichen. Marie saß am Tisch, den Kopf in die Hände gestützt, und weinte. Um sie herum lag der Scherbenhaufen des zerbrochenen Spiegels. Von Michel war nichts zu sehen.
«Mama«, sagte sie leise,»was ist denn los? Warum hast du dich nicht über Papas Geschenk gefreut?«
Marie blickte auf. Nadine fragte sich zum erstenmal, wie ihre Mutter wohl aussah, wenn sie keine verweinten Augen hatte.
«Das verstehst du nicht«, sagte sie,»du bist noch zu klein. Eines Tages wirst du es begreifen.«
Und irgendwann hatte Nadine es begriffen. Sie hatte begriffen, daß es im Leben ihres Vaters ständig andere Frauen gab, daß er ein Leichtfuß war, daß er seinen Launen nachgab, wie es ihm paßte, daß er sorglos in den Tag hineinlebte und sich kaum je Gedanken um andere Menschen machte. Er hatte das schönste Mädchen zwischen Toulon und Marseille geheiratet, aber sie vergraulte ihn mit ihrem dauernden Gejammere, ihren Vorwürfen, ihrem Nörgeln.
Als Nadine vierzehn war und nichts stärker ersehnte, als das Leben, das sie führte, endlich verlassen zu können, verliebte sich Michel in eine Boutiquebesitzerin aus Nizza und zog von einem Tag zum anderen bei ihr ein. Er verpachtete sein Antiquitätengeschäft und erzählte jedem, ob er es hören wollte oder nicht, er habe die Frau seines Lebens gefunden. Anfangs tauchte er noch einige Male vor Nadines Schule auf, fing seine Tochter ab, ging mit ihr in ein Cafe oder zum Essen und berichtete ihr in schwärmerischen Worten, wie wunderbar sich sein Dasein gefügt habe. Aber diese Besuche wurden immer seltener, und schließlich erschien er gar nicht mehr.
Nadine hatte Marie damals immer wieder bestürmt, sich scheiden zu lassen und endlich in eine gemütliche Wohnung am Meer zu ziehen.
«Hier ist es doch furchtbar! Hier versauern wir! Es ist nichts los, und dieses Haus ist einfach schrecklich. Und wieso willst du noch an einen Mann gebunden bleiben, der dich nur enttäuscht und betrogen hat?«
Aber die vielen Jahre der Frustration und des unaufhörlichen Weinens hatten Marie alle Kraft gekostet. Sie brachte die Energie nicht mehr auf, eine Veränderung in ihrem Leben herbeizuführen. Sie fand sich mit dem Haus ab, mit der Einsamkeit, mit all den nicht eingehaltenen Versprechungen, von denen es wimmelte in ihrem Leben. Was keineswegs hieß, daß sie aufhörte zu weinen. Sie hatte sich auch mit den Tränen abgefunden, sie waren fester Bestandteil ihres Alltags. Nadine hatte manchmal den Eindruck, ihre Mutter weinte, wie andere rauchten, tranken oder sich sonst irgendeinem Laster hingaben. Wenn sie ihre Arbeit getan hatte, oder wenn sie auch nur ihre Arbeit unterbrach und sich einen Moment ausruhte, setzte sie sich an den Küchentisch und weinte. Nach einer Weile stand sie auf und machte weiter.
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