Der Spiegel war es auch, der Cathérine an diesem Morgen das Bad meiden ließ. Mehr noch als die atemberaubende Häßlichkeit des Raums machte ihr heute ein Blick auf das eigene Gesicht zu schaffen — wie an vielen anderen Tagen allerdings auch. In der vergangenen Woche hatte sie sich noch ein wenig besser gefühlt, aber in der letzten Nacht war sie aufgewacht von einem Brennen im Gesicht, ein Gefühl, als sei nicht ihr Körper, aber ihre Haut von einem Fieber befallen. Sie hatte leise ins Kissen gestöhnt, hatte sich mühsam beherrscht, nicht die Fingernägel ihrer beider Hände in ihre Wangen zu schlagen und sich in ihrer Verzweiflung die Haut von den Knochen zu fetzen. Es war wieder losgegangen. Warum eigentlich hoffte sie immer wieder in den Phasen der Ruhe, die Krankheit habe sie dieses Mal endgültig verlassen, sei zum Erliegen gekommen, habe beschlossen, sich mit dem zu begnügen, was sie bereits angerichtet hatte? Gott — oder wer auch immer dahintersteckte — könnte den Spaß verlieren, könnte endlich zufrieden sein mit seinem Werk der Zerstörung und sich einem neuen Opfer zuwenden. Die Hoffnung hatte sich noch jedes Mal als trügerisch erwiesen. Im Abstand von wenigen Wochen — im Höchstfall mochten es zwei oder drei Monate sein — brach die Akne über Nacht aus; heimtückisch verschonte sie Rücken, Bauch und Beine und konzentrierte sich ganz auf Gesicht und Hals, tobte sich dort aus, wo es für Cathérine keine Möglichkeit gab, die häßlichen eitrigen Pusteln zu verstecken. Sie blühte einige Tage lang und ebbte dann langsam ab, hinterließ Narben, Krater, Erhebungen, Rötungen und undefinierbare Flecken. Cathérine litt seit ihrem dreizehnten Lebensjahr unter der Krankheit, und heute, mit zweiunddreißig Jahren, sah ihr Gesicht aus, als sei sie Opfer eines grausamen Anschlags geworden. Sie war entstellt, auch in den Phasen, in denen die Akne ruhte.
Mit dicken Schichten von Make-up und Puder konnte sie sie dann jedoch wenigstens notdürftig tarnen. Im Akutzustand hatte das keinen Sinn und verschlimmerte alles nur noch.
Das Jucken in ihrem Gesicht und die engen Wände ihrer düsteren, alten Wohnung machten sie bald so nervös, daß sie beschloß, trotz allem hinauszugehen und in einem Cafe an der Hafenpromenade zu frühstücken. Ihre Wohnung — in einer der engen, dunklen Gassen der Altstadt von La Ciotat gelegen — war von so bedrückender Atmosphäre, daß sie es manchmal kaum mehr ertragen konnte. Im Sommer, wenn das Land in der Hitze stöhnte, mochten jedoch Schatten und Kühle dort noch angenehm sein. Im Herbst und Winter herrschte eine Stimmung tiefster Depression.
Sie zog einen leichten Mantel an und schlang einen Schal um den Hals, zog ihn dann hinauf und versuchte, Kinn und Mund notdürftig damit abzudecken. Die Gasse, die sie empfing, war feucht und lichtarm. Die Häuser standen sich dicht gegenüber und schienen sich einander zuzuneigen. Der Regen fiel fein und stetig. Mit raschen Schritten und gesenktem Kopf hastete Cathérine durch die Straßen, auf denen sich an diesem frühen Morgen und bei dem schlechten Wetter glücklicherweise kaum Menschen aufhielten. Ein älterer Mann kam ihr entgegen und glotzte sie an. Sie merkte, daß ihr Schal verrutscht war. Sie wußte, wie abstoßend ihre Haut aussah. Fast konnte sie es den Leuten nicht verdenken, daß sie zurückzuckten.
Sie atmete leichter, als sie aus der letzten Häuserreihe heraustrat und das Meer vor sich sah. Träge schwappte es gegen die Kaimauern, grau wie der Himmel, ohne das Leuchten, das ihm sonst entstieg. Die gewaltigen Kräne im Hafen ragten vor der Kulisse des Adlerfelsens empor; Relikte aus dem Krieg, von den Nazis errichtet und so gründlich verankert, daß es ein Vermögen kosten würde, sie zu entfernen; sie blieben also und sorgten in ihrer stählernen Häßlichkeit dafür, daß La Ciotat niemals ein attraktiver Touristenort am Mittelmeer werden konnte, daß ihm für immer der Eindruck einer grauen Arbeiterstadt anhaften würde.
Eine häßliche Stadt, dachte Cathérine, wie geschaffen für eine häßliche Frau.
Sie ging ins Bellevue schräg gegenüber vom Hafen, das einzige Cafe, das am Sonntag zu dieser frühen Stunde schon geöffnet hatte. Der Wirt kannte sie seit Jahren, sie konnte sich also mit ihrem entstellten Gesicht zeigen. Sie setzte sich in eine der hinteren Ecken und zog den Schal vom Hals.
«Einen cafe creme«, sagte sie,»und ein Croissant.«
Philipe, der Wirt, musterte sie mitleidig.»Wieder mal schlimm heute, nicht?«
Sie nickte, bemühte sich um einen leichten Ton.»Kann man nichts machen. Die Geschichte behält ihren Rhythmus. Ich war eben wieder fällig.«
«Ich bringe Ihnen jetzt einen richtig schönen Kaffee«, sagte Philipe eifrig,»und mein größtes Croissant.«
Er meinte es gut, aber sein offensichtliches Mitleid tat ihr weh. Es gab nur diese zwei Möglichkeiten, wie Menschen mit ihr umgingen: voller Mitleid oder mit Abscheu.
Manchmal wußte sie nicht, was schwerer zu ertragen war.
Das Bellevue hatte eine überdachte Terrasse zur Straße hin, die in der kalten Jahreszeit mit einer durchsichtigen Kunststoffwand nach vorn geschützt war. Cathérine konnte die Straße beobachten, die sich allmählich etwas stärker bevölkerte. Zwei Joggerinnen, begleitet von einem kleinen, wieselflinken Hund, trabten vorüber; ab und zu kam ein Auto vorbei; ein Mann mit einem riesigen Baguette unter dem Arm schlug den Weg in Richtung Altstadt ein. Cathérine stellte sich vor, wie sehnsüchtig er daheim erwartet wurde, von seiner Frau und seinen Kindern. Ob er eine große Familie hatte? Oder vielleicht war er nur mit einer Freundin zusammen, einer hübschen, jungen Frau, die noch im Bett lag und schlief und die er mit einem Frühstück überraschen wollte. Sie hatten einander geliebt in der Nacht, der Morgen danach war friedlich, und den Regen bemerkten sie kaum. Die junge Frau hatte wahrscheinlich rosige Wangen, und er sah sie ebenso verliebt wie bewundernd an.
Sie haßte solche Frauen!
«Ihr Kaffee«, sagte Philipe,»und Ihr Croissant!«
Schwungvoll stellte er beides vor sie hin, schaute dann sorgenvoll hinaus.»Heute regnet es nur einmal«, prophezeite er.
Sie rührte ein einsames Stück Zucker in ihre einsame Tasse, spürte, daß Philipe noch etwas sagen wollte, und hoffte, er werde es nicht tun, weil es nur wieder zu neuen Schmerzen führen konnte.
«Mit Ihrem Gesicht«, sagte er verlegen und konnte sie dabei nicht ansehen,»ich meine, was sagen die Ärzte denn da? Sie gehen doch sicher zu Ärzten?«
Ihr lag eine patzige Antwort auf den Lippen, aber sie schluckte sie hinunter. Philipe konnte nichts für ihr Elend, und zudem mochte sie sich mit ihm nicht überwerfen. Wenn sie in seine Kneipe nicht mehr gehen konnte, hatte sie keinen Anlaufort mehr außerhalb ihrer Wohnung.
«Natürlich«, sagte sie,»ich war bei unzähligen Ärzten. Ich glaube, es gibt kaum etwas, was nicht probiert wurde. Aber…«Sie zuckte mit den Schultern.»Man kann mir nicht helfen.«
«Das gibt es doch gar nicht«, ereiferte sich Philipe.»Daß eine Frau so herumlaufen muß… Ich meine, die können zum Mond fliegen und Herzen transplantieren… aber mit so einer Geschichte werden sie nicht fertig!«
«Es ist aber so«, sagte Cathérine und fragte sich, was sie seiner Ansicht nach auf seine Bemerkungen hin erwidern sollte.»Ich kann nur hoffen, daß irgendwann ein Arzt einen Weg findet, mir zu helfen.«
«Woher kommt das denn?«Philipe hatte nun eine Hemmschwelle überschritten, starrte sie unverhohlen an und verbiß sich in das Thema.»Dazu muß es doch eine Theorie geben!«
«Da gibt es viele Theorien, Philipe. Sehr viele. «Sie sah, daß eine Frau mit zwei Kindern den Raum betrat, und hoffte inständig, Philipe werde sich nun diesen neu hinzugekommenen Gästen zuwenden.»Es wird schon alles werden«, meinte sie in abschließendem Ton und hätte am liebsten zu heulen begonnen. Ihr Gesicht brannte wie Feuer.
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