War Cathrine an dieser verfahrenen Situation schuld? Hätte Cathrine nicht mit Abdel geschlafen und wäre sie nicht mit ihm nach Marrakesch geflogen, wäre alles sicher ganz anders verlaufen. Oder vielleicht doch nicht? Die Beantwortung dieser Frage war unwichtig geworden. Sie musste zunächst tun, was Abdel Rahman von ihr verlangte. Sie hatte das Buchmanuskript und die Unterlagen aus dem Archiv bei sich. Vor wenigen Stunden hatte sie sich die beiden Aktenordner in der Christie’s-Zentrale besorgt. Rasch hatte sie die Seiten überflogen. Der Inhalt hatte sie schockiert. Als sie während eines Gesprächs mit Luc Duchard, der im Board of Directors des Konzerns saß, feststellte, dass er über ihren Auftrag in keiner Weise informiert war, wusste Marie-Claire weder ein noch aus. Wieso wussten die Direktoren von Christie’s nichts von ihrem Auftrag? Offensichtlich hatte Francois Roundell sie angelogen. Aber warum? Seither hatte sie Angst. Entsetzliche Angst! Was von nun an geschehen würde, war nicht absehbar. Das Einzige, was derzeit feststand, war, dass sie im Flugzeug nach Marokko saß. In etwa vier Stunden würde sie in Marrakesch landen.
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Für Hassan Jorio, Kommandant der Berufsfeuerwehr von Marrakesch, war es der aufregendste Einsatz seines Lebens. Der dickbäuchige Hüne mit dem kahlen Schädel saß in seinem Büro und zwirbelte nervös an seinem Oberlippenbart. Der Muezzin rief soeben von der nahen Moschee zum Nachmittagsgebet. Vor ihm auf dem Schreibtisch lagen Dutzende Straßenkarten, Baupläne, Fahrzeug- und Personallisten. Seit zwei Tagen tat er nichts anderes, als sich auf diese Sache im Hotel Palmeraie und dem nahe gelegenen noblen Reitclub vorzubereiten. Was ihn unruhig machte, waren aber nicht die einsatztechnischen Aspekte dieser Übung, das war pure Routine. In allen größeren Hotels, Schulen und öffentlichen Gebäuden wurden in regelmäßigen Abständen solche Übungen durchgeführt. Sie liefen immer nach dem gleichen Muster ab: simulierte Brandherde im Objekt – Alarm – Ausrücken – Ankunft – Lagebesprechung mit den Abteilungsleitern der jeweiligen Einsatzgruppen – Brandherde lokalisieren – Schläuche ausfahren – Anwohner evakuieren – Wasser Marsch! Heute jedoch würde das ganz anders ablaufen. Zum einen eilten permanent hochrangige Polizeibeamte mit goldenen Schulterabzeichen und vielen Orden auf ihren Jacketts in sein Büro, hinterfragten ständig, was er tat und plante. Zum anderen gab es da die vielen Zivilbeamten, deren Namen er sich nicht merken konnte und von denen er nicht einmal genau wusste, wer sie überhaupt waren. Fest stand nur, dass es alles sehr wichtige Leute waren, die auf direkten Befehl des Innenministers handelten und deren Befehlen er widerspruchslos zu gehorchen hatte. Doch das war nicht gerade einfach. Die fürchterliche Geheimnistuerei dieser Männer ließ ihn nur erahnen, was auf ihn und seine Männer zukommen würde. Man hatte ihm nur gesagt, dass acht Löschfahrzeuge mit je zehn Feuerwehrmännern bereitstehen mussten. Zudem noch Fahrzeuge und Personal zur weiträumigen Absperrung, vier mit Ärzten und Sanitätern besetzte Notarztwagen und ein Rettungshubschrauber! Den genauen Ablauf der Übung würde er erst kurz vor dem Einsatz erfahren. Dann, dachte Hassan Jorio, würde man ihm vielleicht auch sagen, warum er noch zwanzig Feuerwehruniformen hatte besorgen müssen. Auch das war unter strengster Geheimhaltung geschehen! Auf der Materialanforderungsliste, die ihm kommentarlos auf den Tisch geknallt worden war, standen Dinge, die für solche Übungen nicht üblich waren. Zum Beispiel Löschmaterialien für Brände mit hoch explosiven Chemikalien. Und ABC-Gasmasken! Diese Liste las sich so, als würde heute in dem Luxusresort außerhalb von Marrakesch Krieg ausbrechen! Dem war vielleicht auch so. Es ging um Terroristen! Und das machte ihn nervös.
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Cathrine de Vries war aus dem Tiefschlaf erwacht. Sie war völlig benommen. Ihr erster Versuch, sich in dem Bett aufzurichten, misslang. Beide Hände waren mit Klebeband an dem hinteren Teil des Bettes festgebunden. Auch ihre Beine hatte man zusammengebunden. Cathrine war übel, sie musste würgen. Panik überkam sie. Ihr Mund war zugeklebt. Entsetzt schaute sie sich in dem Zimmer um. Die Fensterläden waren zugeklappt, die Vorhänge vorgezogen. Sie konnte an den wenigen Lichtstrahlen, die ins Zimmer fielen, nur erahnen, dass es später Nachmittag sein musste. Dann hörte sie einen Muezzin in der Nähe über Lautsprecher die Gläubigen zum Gebet rufen. Also war es ungefähr sechs Uhr, kurz vor Sonnenuntergang! Sie schien sehr lange geschlafen zu haben. Sie hatte Kopfschmerzen. Wieder bekam sie einen Würgeanfall, hyperventilierte und zwang sich, bewusst ruhig durch die Nase ein- und auszuatmen.
Dann hörte sie unten Stimmen. Angestrengt lauschte sie durch das Halbdunkel des Zimmers. War das möglich? Sie war sich sicher, Marie-Claires Stimme zu hören. Die andere Stimme war die von Abdel Rahman. Die beiden stritten sich. Dann war es plötzlich vom einen auf den anderen Augenblick still. Cathrine de Vries zerrte an ihren Fesseln, aber das Klebeband schnitt ihr in die Handgelenke. Ihre Beine waren von dem langen Liegen taub. Das da unten war tatsächlich ihre Schwester Marie-Claire.
Cathrine war unendlich erleichtert, doch gleichzeitig kam auch die Angst zurück. Sie schämte sich und fürchtete sich vor dem ersten Zusammentreffen mit Marie-Claire. Sie wusste, dass zwischen ihnen beiden nichts mehr so sein würde, wie es einmal gewesen war.
Doch im Moment zählte nur die Situation, in der sie und Marie-Claire sich befanden. Sie war Geisel eines skrupellosen Gangsters, eines Arabers, der sie benutzt hatte wie eine Hure. Und sie hatte Marie-Claire mit ihrem Verhalten unendlich verletzt. Marie-Claire war nun gezwungen gewesen, ihren Auftraggeber zu hintergehen. Sie musste Unterlagen besorgen, die dieser Abdel Rahman haben wollte. Ihre Schwester machte sich dadurch strafbar, und sie hatte sich freiwillig in die Hände dieser Kriminellen begeben – um sie, Cathrine, zu retten. Würden sie und Marie-Claire Marrakesch verlassen können, sobald diese Gangster hatten, was sie wollten? Die Tür ging auf. Gegen das Licht im Treppenhaus konnte sie die Gestalt von Abdel Rahman erkennen. Daneben stand Marie-Claire. Cathrine konnte das Gesicht ihrer Schwester im Halbdunkel nicht wirklich sehen, aber sie glaubte zu spüren, wie mitleidvoll und hasserfüllt Marie-Claire sie anschaute. Abdel Rahman sprach mit ihr. Der blanke Hohn seiner Worte ließ Cathrine erschauern.
»Okay, das reicht! Du hast gesehen, dass es deiner Schwester den besonderen Umständen entsprechend gut geht. Reizvoll, der Anblick, nicht wahr? So am Bett festgebunden! Du erinnerst dich?«
Die wenigen Worte von Abdel Rahmann ließen unbändigen Hass in Cathrine de Vries aufkeimen. Sie bäumte sich auf. Dann wurde die Tür wieder geschlossen, und sie war alleine mit ihrem Hass.
»Sag mir, was du von uns willst. Du wirst es bekommen. Unsere Freiheit gegen deine Gier! Das ist es doch, worum es geht, oder? Du willst den Florentiner!«
Marie-Claire de Vries versuchte gegen ihre Emotionen anzukämpfen. Der Abscheu, den sie für Abdel Rahman empfand, half ihr dabei. Sie hasste diesen Mann, wie sie nie zuvor in ihrem Leben einen Menschen gehasst hatte. Sie war sich in diesem Augenblick sicher, dass sie in der Lage wäre, diesen Mann zu töten. Der Anblick ihrer Zwillingsschwester Cathrine in dem Bett, hilflos und verzweifelt, ließ ein unbändiges Verlangen nach Rache in ihr erwachen. Das half ihr, überhaupt mit dem Araber reden zu können. Die Pistole, die Abdel Rahman vor sich auf dem Tisch liegen hatte, erinnerte sie daran, dass er ein gefährlicher, ein sehr gefährlicher Mann war.
»Du willst den Florentiner, richtig?«
»Du bist ein kluges Mädchen, Marie-Claire. Wirklich! Ich bewundere deinen Scharfsinn«, lachte er sie hämisch an.
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