»Ja, ich will den Florentiner. Hast du die Unterlagen mitgebracht?«
»Viele Leute wollen den Florentiner, Abdel! Viele hatten ihn schon einmal. Alle starben sie auf höchst dramatische und ungewöhnliche Weise. Ja, ich habe die Unterlagen. Aber glaube mir: An dem Diamanten hängt ein Fluch. Du solltest es dir überlegen.«
»Weißt du, wo er ist?«
»Hältst du mich für so dumm, dass ich es dir sagen würde, wenn ich es wüsste?«
»Hast du die Unterlagen mitgebracht – das Manuskript und dieses Dossier?«
»Glaubst du, ich habe diese Sachen hier in meiner Tasche? Meinst du, so blöde bin ich? Du bist so ein mieses Schwein, du würdest Cathrine und mich sofort töten, wenn ich dir die Sachen einfach so geben würde. Lass Cathrine frei. Dann bekommst du das Manuskript. Danach lässt du mich laufen und bekommst das Dossier!«
Marie-Claire begriff, dass sie und Cathrine nur so lange eine Überlebenschance hatten, wie sie die Unterlagen als Pfand besaß. Das hatte sie schon auf der Herfahrt erkannt, und daher war sie mit dem Taxi zur Rezeption des Hotels Palmeraie gefahren und hatte die beiden Umschläge dort hinterlegt und darum gebeten, sie bis zu ihrem Einchecken für sie aufzubewahren. Dann hatte sie ein Zimmer gebucht. Auf diese grandiose Idee war sie erst gekommen, als der Taxifahrer ihr auf der Fahrt vom Flughafen zu jenem Haus, das Abdel Rahman ihr am Telefon genannt hatte, von dem Hotel vorschwärmte, aber auch erwähnt hatte, dass das Hotel halb leer sei. Plötzlich fühlte sie sich siegessicher. Ja, so hatten sie und Cathrine eine Chance, hier heil rauszukommen. Eine kleine Chance zumindest.
Ihr Blick fiel auf den kleinen Tisch neben ihrem Sessel. Unter einer Zeitung schaute ein Pass hervor. Es war ein roter Pass. Sie konnte erkennen, dass in goldenen Lettern »Europäische Union – Republik Österreich« darauf stand. Der Pass von Cathrine. Abdels Worte ließen sie aus ihren Gedanken hochschrecken.
»Schade, dass du so abweisend bist. So geht das nicht, Marie-Claire! Du scheinst deine Situation und die deiner Schwester falsch einzuschätzen. Euer Leben hängt an einem hauchdünnen Faden. Und du glaubst wirklich, du könntest hier noch Forderungen stellen? Absurd! Aber vielleicht kann ich deine Bereitschaft zur Kooperation ein wenig intensivieren, wenn wir noch einmal zusammen nach oben gehen zu deiner Schwester und ich sie vor deinen Augen so verwöhne, wie ich das mit dir gemacht habe. Du hast es ja gemocht, oder? Aber vielleicht kann ich dich ja auch im gleichen Bett neben deiner Schwester festbinden und mich dann die nächsten Tage abwechselnd mit euch beiden beschäftigen. Ein sehr reizvoller Gedanke! Zwillingsschwestern. Also, überleg dir genau, was du hier daherquatschst!«
Marie-Claire war angewidert. Wie sehr sie diesen Mann hasste. Doch sie musste vorsichtig sein.
»Ich hatte eher vermutet, dass du mit mir einen schnellen Deal machen willst: Du kriegst die Unterlagen – und ich kriege meine Schwester. Aber du scheinst es ja nicht sonderlich eilig zu haben. Ich habe die Unterlagen. Sie sind hier in Marrakesch, aber ich habe sie jetzt nicht dabei. Du kannst mich und Cathrine vergewaltigen, mit einer Pistole in der Hand ist das einfach. Du hast das ja sowieso schon getan, insofern ist mir das scheißegal, glaube mir. Aber an die Unterlagen kommst du so nicht ran.«
Plötzlich hatte sie Angst vor ihrer eigenen Courage. Sie sah das Aufblitzen in den Augen von Abdel Rahman.
»Was willst du eigentlich mit dem Florentiner?«, fragte sie beschwichtigend. »Kein Mensch weiß genau, wo er wirklich ist. Willst du mich und Cathrine so lange hier am Bett festbinden, bist du ihn anhand der Unterlagen gefunden hast? Das ist doch absurd. Du alleine findest den Diamanten nicht. Aber ich könnte …«
»Ich bin nicht allein! Daher bin ich auch nicht auf dich angewiesen!«
Wie ein Peitschenschlag unterbrachen die Worte des Arabers ihre Überlegungen, wie sie ihn hinhalten könnte. Sie hatte keine Idee, wie sie hier möglichst schnell wieder heil rauskommen könnte. Abdel stand auf. Die Pistole in der Hand ging er quer durch das Wohnzimmer, blieb neben dem Aquarium stehen, griff hinein und wühlte mit der freien Hand im Sand des Beckens. Grinsend zog er etwas aus dem Wasser.
»Schau mal, hier! Nette kleine Sternchen, oder?«
Marie-Claire erstarrte. Abdel stand einige Meter entfernt, doch gegen das Licht des beleuchteten Aquariums konnte sie in seiner Hand zwei funkelnde Steine erkennen, beide von der Größe einer Walnuss. Einer davon war etwas kleiner. Sie funkelten selbst auf diese Distanz so intensiv, dass sie sofort wusste, was Abdel Rahman da in der Hand hielt.
»Der Große und der Kleine Sancy!«
»Richtig, meine Liebe. Und zwar die Originale. Keine Kopien!«
Demonstrativ nahm Abdel Rahman einen der Edelsteine zwischen Daumen und Zeigefinger und zog ihn blitzschnell über das Glas des Aquariums. Es war ein grausiges Geräusch. Danach war eine tiefe Furche in dem Glas zu sehen. Abdel steckte die Steine zurück in den Sand auf den Boden des Aquariums.
»Warum bist du so unglaublich unersättlich?«, fragte Marie-Claire. »Die beiden Sancys sind ein Vermögen wert. Warum willst du auch noch den Florentiner? Ihn zu finden ist schwierig – wenn es dir überhaupt gelingt. Und dann ist es noch ein weiter Weg dahin, ihn zu kriegen. Willst du noch ein Museum in die Luft jagen? Wozu?«
Abdel Rahman richtete plötzlich die Pistole auf sie. Marie-Claire zuckte zusammen. Scheiße, dachte sie, du warst zu vorlaut. Du hast ihn gereizt. Der ist wahnsinnig! Er wird dich töten, ohne mit der Wimper zu zucken.
»Ich sagte doch, ich bin nicht allein. Noch nicht! Ich will den Florentiner. Denn da gibt es eine kleine, nette Statue irgendwo auf der Welt, die darauf wartet, wie in dem alten Sesam-öffne-dich-Spielchen durch Zauberkraft ihres Innenlebens beraubt zu werden. Und dafür brauche ich den Florentiner. Wir brauchen ihn.«
Marie-Claire hoffte, dass Abdel nicht gesehen hatte, wie sie bei seinen letzten Worten zusammengezuckt war. Woher wusste er von der Statue? Es gab nur wenige Menschen, die dieses Geheimnis kannten. Sanjay zum Beispiel! Sanjay? Ihr wurde schwindelig. Das konnte nicht sein. Oder doch? Steckte Sanjay Kasliwal mit Abdel Rahman, mit diesem miesen Verbrecher unter einer Decke? Francis! Francis Roundell wusste ebenfalls von der Statue …
»Ich habe von dieser Legende gehört. Es gibt viele solcher Legenden. Wenn du an so was glaubst, glaubst du auch an den Heiligen Gral. Oder an Atlantis«, versuchte sie, ihr Entsetzen zu kaschieren. Abdel betrachtete sie mit eiskaltem Blick. Wieder sah sie in seinen Augen die Bereitschaft zu töten.
»Hör auf, so blöde mit mir rumzuspielen, Marie-Claire. Versuch es erst gar nicht! Du bist nicht in der Position für solche Spielchen. Es wird dir nicht gelingen, Zeit zu schinden. Die Uhr tickt, meine Liebe. Glaub es mir. Du spielst mit der Zeit. Und du spielst mit deinem Leben. Und mit dem deiner Schwester. Also, wo sind …«
Abdel Rahmans Handy klingelte. Verärgert zog er es aus seiner Hosentasche.
»Oui … komm rein. Ich mach dir die Tür auf.«
Marie-Claire saß noch immer in dem Sessel nahe dem Aquarium. Sie blickte den Araber fragend an, der ihr mit einer Bewegung der Pistole bedeutete, sitzen zu bleiben. Es klingelte.
Abdel drückte den Türöffner. Augenblicke später stand ein Mann in der Tür, dessen Stimme Marie-Claire kannte, ja, sehr gut kannte! Beinahe hätte sie laut aufgeschrien vor Entsetzen. Francis Roundell trat in den Raum. Sein Blick ging zu Abdel Rahman. »So ein verfluchter Mist. Was ist denn hier los? Überall Straßensperren und Feuerwehrautos.«
Dann sah er die Pistole in der Hand des Arabers. Und er sah Marie-Claire. »Was … was soll das? Bist du wahnsinnig?«
Noch nie zuvor hatte Marie-Claire ihren Chef Francis Roundell so perplex gesehen. Hager und groß gewachsen wie er war, fahl im Gesicht vor Überraschung und Entsetzen, sah Roundell fast bemitleidenswert aus. Es war deutlich zu erkennen, dass er nicht gewusst hatte, dass er sie hier treffen würde. Er schluckte verlegen, starrte Abdel Rahman fragend und doch wütend an.
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