Durch ihr Unglück verbittert, konzentrierte Rebecca ihre außergewöhnlichen Geistesgaben auf das Finanzgeschäft – die Fähigkeit dazu lag ihr im Blut. Sie wurde Teilhaberin ihres Vaters.
Nach seinem Tod blieb sie mit ihrem riesigen Besitz weiter eine mächtige Erscheinung in der Finanzwelt. Sie kam nach London, und der jüngere Partner eines dortigen Bankhauses, Alistair Blunt, wurde ins Hotel Claridge geschickt, um mit ihr eine Reihe von Schriftstücken durchzusehen. Ein Jahr später empfing die Welt wie einen elektrischen Schlag die Nachricht, dass Rebecca Sanseverato Alistair Blunt heiraten würde, einen Mann, der nahezu zwanzig Jahre jünger war als sie.
Es gab das übliche Gespött. Rebecca – so sagten ihre Freunde – sei wirklich eine unverbesserliche Närrin, wenn ein Mann im Spiel war! Zuerst Sanseverato – jetzt dieser Jüngling. Natürlich heiratete er sie nur des Geldes wegen. Eine zweite Katastrophe stand ihr mit Sicherheit bevor! Aber zur allgemeinen Überraschung erwies sich die zweite Ehe als ein Erfolg. Die Leute, die prophezeit hatten, Alistair Blunt werde Rebeccas Geld für andere Frauen ausgeben, hatten sich geirrt. Er blieb seiner Frau mit stiller Zuneigung treu. Sogar als er nach ihrem Tod, zehn Jahre später, sich als Erbe ihres riesigen Vermögens jeden Wunsch erfüllen konnte, heiratete er nicht wieder. Er führte weiter sein altes ruhiges und einfaches Leben. Seine finanzielle Begabung war nicht geringer als die seiner Frau. Sein Urteil und seine Geschäfte waren gesund – sein Ruf stand außer Frage. Er beherrschte die gewaltigen Interessen der Arnholts und der Rothersteins durch seine überlegenen Fähigkeiten.
In Gesellschaft ging er sehr wenig. Er besaß ein Haus in Kent und eines in Norfolk, wo er das Wochenende zu verbringen pflegte – nicht mit lärmenden Scharen, sondern mit ein paar ruhigen, gesetzten Freunden. Er spielte gern und mäßig Golf und beschäftigte sich mit seinem Garten.
Das war der Mann, zu dem sich Chefinspektor Japp und Hercule Poirot in einem etwas altersschwachen, rüttelnden Taxi jetzt begaben. Das Gotische Haus war eine bekannte Sehenswürdigkeit am Chelsea Embankment – innen nicht sehr modern, aber äußerst behaglich und mit dem Luxus kostspieliger Schlichtheit eingerichtet. Alistair Blunt ließ seine beiden Besucher nicht warten.
«Chefinspektor Japp?»
Japp begrüßte ihn und stellte Hercule Poirot vor, den Blunt mit Interesse betrachtete.
«Ich kenne natürlich Ihren Namen, M. Poirot. Und mir ist, als hätte ich irgendwo ganz kürzlich…» Er dachte stirnrunzelnd nach.
Poirot sagte: «Heute Vormittag, Mr Blunt – im Wartezimmer de ce pauvre M. Morley.»
Alistair Blunts Stirn glättete sich.
«Natürlich. Ich wusste, dass ich Ihnen irgendwo begegnet bin.» Er wandte sich an Japp. «Was kann ich für Sie tun? Was ich über den armen Morley gehört habe, tut mir außerordentlich Leid.»
«Es hat Sie überrascht, Mr Blunt?»
«Sehr. Natürlich habe ich sehr wenig über ihn gewusst, aber er ist mir keineswegs wie ein Mensch vorgekommen, der Selbstmord begehen würde.»
«Er hat also heute Vormittag einen gesunden und normalen Eindruck gemacht?»
«Ich glaube wohl – ja.» Alistair Blunt hielt inne und sagte dann mit einem fast knabenhaften Lächeln: «Ehrlich gesagt, ich bin ein großer Feigling, wenn es sich um den Zahnarzt handelt. Und den Bohrer, dieses scheußliche Ding, hasse ich einfach. Deshalb habe ich eigentlich nicht viel bemerkt. Jedenfalls nicht, bis alles vorbei war und ich aufstehen durfte. Aber ich muss sagen, dass mir Morley hinterher vollkommen normal erschien. Guter Laune und geschäftig.»
«Hatten Sie ihn schon öfters konsultiert?»
«Es war mein dritter oder vierter Besuch bei ihm.»
Hercule Poirot fragte: «Wer hat Ihnen Morley empfohlen?»
Blunts Augenbrauen zogen sich in konzentriertem Nachdenken zusammen.
«Warten Sie einmal – ich hatte Zahnschmerzen – jemand hat mir gesagt, Morley in der Queen Charlotte Street sei der richtige Mann – nein, ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern, wer das gewesen ist. Tut mir Leid.»
«Falls es Ihnen noch einfällt – würden Sie dann einem von uns beiden Bescheid geben?», bat Poirot.
Alistair Blunt sah ihn neugierig an.
«Das will ich gern tun – natürlich. Warum? Ist es wichtig?»
«Ich habe so eine Ahnung», sagte Poirot, «dass es sogar sehr wichtig sein könnte.»
Sie gingen gerade die Stufen vor dem Haus hinunter, als ein Wagen vorfuhr. Es war einer jener «sportlichen» Wagen, bei denen man sich, um auszusteigen, portionsweise unter dem Steuerrad hindurchquetschen muss.
Das junge Mädchen, das diese gymnastische Übung vollführte, schien hauptsächlich aus Armen und Beinen zu bestehen. Die beiden Männer waren noch einige Schritte vom Haus entfernt, als die Befreiung endlich glückte.
Das Mädchen stand auf dem Trottoir und sah ihnen nach. Dann rief sie plötzlich mit kräftiger Stimme: «He!»
Keiner von beiden drehte sich um, denn weder Japp noch Poirot ahnten, dass der Ruf ihnen galt. Das Mädchen rief nochmals: «He! He! Sie dort!»
Sie blieben stehen und schauten fragend zurück. Das Mädchen ging auf sie zu. Der Eindruck, sie bestehe hauptsächlich aus Armen und Beinen, blieb unverändert. Sie war groß und schlank, und ihr Gesicht strahlte eine Intelligenz und Lebendigkeit aus, die für den Mangel an eigentlicher Schönheit entschädigten. Sie war dunkelhaarig und tiefgebräunt.
«Ich weiß, wer Sie sind – Sie sind dieser Detektiv, Hercule Poirot!»
Ihre Stimme hatte einen tiefen, warmen Klang und den Anflug eines amerikanischen Akzents.
Poirot sagte: «Zu Ihren Diensten, Mademoiselle.»
Ihre Augen streiften seinen Begleiter.
«Chefinspektor Japp», stellte Poirot vor.
Sie riss die Augen auf – fast erschrocken, wie es schien.
Atemlos fragte sie: «Warum sind Sie bei uns gewesen? Es ist – es ist doch Onkel Alistair nichts zugestoßen?»
Poirot fragte rasch: «Warum glauben Sie das, Mademoiselle?»
«Es ist nichts passiert? Gut.»
Japp griff Poirots Frage auf. «Warum glauben Sie, dass Mr Blunt etwas zugestoßen sein könnte, Miss…»
Fragend hielt er inne, und mechanisch antwortete sie: «Olivera. Jane Olivera.» Dann ließ sie ein leichtes, wenig überzeugendes Lachen hören. «Wenn man Spürhunde auf der Schwelle findet, denkt man unwillkürlich an ein Verbrechen im Haus, nicht wahr?»
«Mr Blunt ist nichts zugestoßen. Zu meiner Freude kann ich Ihnen dies versichern, Miss Olivera.»
Sie sah Poirot scharf an.
«Hat er Sie zu sich gebeten?»
Japp antwortete: «Nein, Miss Olivera, wir haben ihn aufgesucht, um zu erfahren, ob er zur Aufklärung eines Selbstmordes beitragen kann, der sich heute ereignet hat.»
«Ein Selbstmord? Wer hat sich denn umgebracht?»
«Ein Zahnarzt namens Morley in der Queen Charlotte Street 58.»
«Oh!», murmelte Jane Olivera ausdruckslos.
Sie sah stirnrunzelnd vor sich hin. Dann sagte sie unvermittelt: «Aber das ist doch absurd!» Plötzlich wandte sie sich um, ließ die beiden Männer ohne Gruß stehen, lief die Stufen zum Gotischen Haus hinauf, schloss die Tür auf und verschwand.
«Nun!», murrte Japp und starrte ihr nach. «Das war eine sonderbare Bemerkung!»
«Interessant», bemerkte Poirot milde.
Japp riss sich zusammen, schaute auf die Uhr und winkte einem vorbeifahrenden Taxi.
«Wir haben noch Zeit, auf dem Weg ins Savoy einen Sprung zu dieser Sainsbury Seale zu machen.»
Miss Sainsbury Seale saß in der matt erleuchteten Halle des Glengowrie Court Hotels und trank ihren Nachmittagstee.
Das Auftauchen eines Kriminalbeamten in Zivil erregte sie – aber es war, wie Japp beobachtete, eine angenehme Erregung.
Читать дальше