Sie ging in ihr Zimmer und setzte sich einen Hut auf. Sie ging nie ohne Hut aus. Dann betrachtete sie sich missbilligend im Spiegel. Keine sehr bemerkenswerte Persönlichkeit! Aber das konnte auch seine Vorteile haben. Sie lächelte. Diese Tatsache hatte es ihr ermöglicht, die hervorragenden Zeugnisse ihrer verstorbenen Schwester Angele und deren Passbild zu benutzen. Angele war eine begeisterte Lehrerin gewesen, aber sie selbst fand diesen Beruf unerträglich langweilig, obwohl sie mehr verdiente als je zuvor. Auch alles andere war über Erwarten gut gegangen, und die Zukunft sah rosig aus. Vieles würde sich ändern, niemand würde die unscheinbare Mademoiselle Blanche wiedererkennen… Sie sah sich im Geist schon an der Riviera, gepflegt, elegant und umschwärmt. Man brauchte nur Geld zu haben, um das Leben in vollen Zügen genießen zu können. Ja, es hatte sich gelohnt, in diese unsympathische englische Schule zu kommen.
Sie nahm ihre Handtasche und verließ das Zimmer. Im Korridor kniete eine Frau neben einem Eimer. Eine neue Putzfrau – in Wirklichkeit natürlich ein Polizeispitzel. Glaubten die wirklich, man sei so einfältig, dieses Manöver nicht zu durchschauen?
Sie lächelte noch immer verächtlich, während sie durch das Parktor zu der gegenüberliegenden Autobushaltestelle ging. Sie wartete, der Bus musste gleich kommen.
Auf der ruhigen Landstraße waren nicht viele Leute zu sehen. Ein Mann beugte sich über den geöffneten Kühler seines Wagens. Ein Fahrrad war an die Hecke gelehnt. Der Besitzer stand daneben. Ein Mann wartete an der Haltestelle.
Einer der drei Männer würde ihr zweifellos folgen… geschickt und unauffällig, das verstand sich von selbst. Aber das störte sie nicht im Geringsten. Wohin sie ging und was sie tat, durfte jeder sehen.
Der Autobus kam, und sie stieg ein. Eine Viertelstunde später stieg sie am Hauptplatz der Stadt aus. Ohne sich umzusehen, ging sie über die Straße, um die Auslagen im Schaufenster des Warenhauses zu betrachten. Die ausgestellten Kleider gefielen ihr nicht. Unelegant und provinziell, dachte sie verächtlich. Trotzdem blieb sie eine Zeit lang vor dem Schaufenster stehen, als bewunderte sie die Modelle.
Dann ging sie hinein, kaufte zwei Kleinigkeiten, stieg die Treppe zum ersten Stock empor und betrat den Aufenthaltsraum für Damen. Hier gab es ein paar bequeme Stühle, einen Schreibtisch und eine Telefonzelle.
Sie ging in die Telefonzelle, warf die notwendigen Münzen in den Schlitz, wählte eine Nummer und wartete darauf, die gewünschte Stimme zu hören. Sie nickte zufrieden, drückte auf den entsprechenden Knopf und begann zu sprechen.
»Hier Maison Blanche, haben Sie richtig verstanden? Blanche. Es handelt sich um die geschuldete Summe. Ich gebe Ihnen bis morgen Abend Zeit. Bis dahin muss die Summe auf das Konto von Maison Blanche beim Crédit Nationale in London, Ledbury Street, eingezahlt sein.«
Sie nannte die geforderte Summe.
»Wenn das Geld nicht eingezahlt wird, muss ich mich mit den entsprechenden Stellen in Verbindung setzen, um mitzuteilen, was ich in der Nacht zum Zwölften beobachtet habe. Es handelt sich um den Fall Springer. Sie haben etwas über vierundzwanzig Stunden Zeit.«
Sie legte den Hörer auf und betrat wieder den Aufenthaltsraum, in den eben eine andere Dame gekommen war – vielleicht eine Kundin, vielleicht auch nicht. Wie dem auch sei, sie konnte nichts mitgehört haben.
Mademoiselle Blanche wusch sich in dem danebenliegenden Raum die Hände. Danach ging sie in die Blusenabteilung, probierte zwei Blusen an, kaufte aber keine von beiden. Sie verließ das Warenhaus, schlenderte über die Straße, ging in eine Buchhandlung und fuhr mit dem nächsten Autobus zurück nach Meadowbank.
Während sie die Einfahrt hinaufging, lächelte sie zufrieden. Alles war glänzend arrangiert. Die geforderte Summe war nicht zu groß… es war nicht unmöglich, sich das Geld binnen vierundzwanzig Stunden zu verschaffen. Zunächst einmal brauchte sie nicht mehr… Selbstverständlich würde sie später weitere Forderungen stellen…
Sie hatte keine Gewissensbisse, da sie es nicht für ihre Pflicht hielt, der Polizei das, was sie wusste, mitzuteilen. Diese Springer war eine grässliche Person gewesen, unhöflich und mal élevée. Und warum hatte sie ihre Nase in Dinge gesteckt, die sie nichts angingen? Die Folgen hatte sie sich nur selbst zuzuschreiben.
Mademoiselle Blanche verweilte eine Zeit lang beim Schwimmbassin. Sie beobachtete Eileen Rich und Ann Shapland beim Springen. Beide waren ausgezeichnete Schwimmerinnen. Aus dem Wasser klang fröhliches Mädchengelächter.
Dann läutete es, und Mademoiselle Blanche hatte eine weitere Französischstunde zu geben. Die Schülerinnen waren geschwätzig und unaufmerksam, aber das fiel Mademoiselle Blanche kaum auf. Bald würde sie den verhassten Beruf der Lehrerin endgültig aufgeben können.
Sie ging hinauf in ihr Zimmer, um sich vor dem Abendessen etwas zurechtzumachen. Sie bemerkte zerstreut, dass sie ihren Regenmantel, entgegen ihrer Gewohnheit, über einen Stuhl in der Ecke geworfen hatte, anstatt ihn in den Schrank zu hängen.
Sie beugte sich vor, um ihr Gesicht im Spiegel besser sehen zu können. Sie puderte sich und schminkte sich die Lippen…
Die Bewegung war so schnell, so geräuschlos, so geschickt, dass sie sie zu spät bemerkte. Der Mantel auf dem Stuhl schien plötzlich Falten zu werfen und auf den Boden zu fallen. Im Bruchteil einer Sekunde erhob sich hinter Mademoiselle Blanches Rücken eine Hand mit einem Sandsack, der im gleichen Augenblick auf ihren Nacken herabsauste, als sie den Mund zum Schreien öffnete.
Mrs Upjohn saß am Straßenrand und blickte in eine tiefe Schlucht. Sie unterhielt sich auf Französisch – und mithilfe vieler Gesten – mit einer dicken Türkin, die ihr in allen Einzelheiten, soweit dies die sprachlichen Schwierigkeiten zuließen, ihre letzte Fehlgeburt schilderte. Sie erzählte, sie habe im Ganzen neun Kinder, acht Jungen und ein Mädchen, und dies war bereits ihre fünfte Fehlgeburt.
»Und Sie?« Sie stieß Mrs Upjohn freundschaftlich in die Rippen.
»Combien? Garçons? Filles? Combien?«
»Une fille«, erwiderte Mrs Upjohn.
»Et garçons?«
Um in der Achtung der Türkin nicht zu sinken und in einer Anwandlung von Nationalstolz entschloss sich Mrs Upjohn zu einer Lüge. Sie hielt alle fünf Finger ihrer rechten Hand hoch.
»Cinq«, sagte sie.
»Cinq garçons? Très bien!«
Die Türkin nickte anerkennend. Sie fügte hinzu, dass sie sich noch viel besser verstehen könnten, wenn ihre Kusine hier wäre, die fließend Französisch sprach. Dann fuhr sie fort, ihre Fehlgeburt zu schildern.
Die anderen Fahrgäste saßen in der Nähe; die meisten hatten Esskörbe bei sich, aus denen sie sich bedienten. Der staubige, verbeulte Autobus stand unter einem überhängenden Felsen, und der Fahrer machte sich mit einem anderen Mann am Motor zu schaffen. Mrs Upjohn lebte in einer zeitlosen Welt. Da zwei Landstraßen unter Wasser standen, mussten viele Umwege gemacht werden. Einmal hatten sie sieben Stunden gewartet, bis sie einen Fluss überqueren konnten. Sie wusste nur eins, dass sie Ankara in absehbarer Zeit erreichen würden.
Ihre Gedanken wurden plötzlich von einer Stimme unterbrochen, die in scharfem Gegensatz zu ihrer Umgebung stand.
»Sind Sie Mrs Upjohn?«, fragte die Stimme.
Mrs Upjohn blickte auf. In einiger Entfernung hielt ein Auto, aus dem der Herr, der ihr gegenüberstand, zweifellos gestiegen war. Sein Gesicht war so unverkennbar englisch wie seine Stimme. Er trug einen gut sitzenden grauen Flanellanzug.
»Mein Name ist Atkinson, vom Konsulat in Ankara«, sagte der liebenswürdige Fremde. »Wir versuchen seit Tagen, uns mit Ihnen in Verbindung zu setzen, aber die Straßen waren gesperrt.«
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