Die falsche Shanda war sich darüber klar, dass jederzeit jemand auf der Bildfläche erscheinen konnte, der die echte Shanda kannte, ganz besonders nach dem ersten Mord. Daraufhin bereitete sie ihre Entführung vor, indem sie mit Kommissar Kelsey über diese Möglichkeit sprach. Selbstverständlich wurde sie niemals wirklich entführt. Sowie sie erfuhr, dass ihr Onkel sie am nächsten Morgen abholen lassen wollte, setzte sie sich telefonisch mit ihren Leuten in Verbindung, und daraufhin wurde sie von einem großen Auto abgeholt und ›offiziell‹ entführt. Wie Sie wissen, erschien das Auto des Emirs eine halbe Stunde später in Meadowbank. Die falsche Shanda tauchte in London unter, da ihre Rolle ausgespielt war. Um das Entführungsmärchen aufrechtzuerhalten, wurde jedoch ein Lösegeld verlangt.«
Hercule Poirot machte eine kurze Pause. Dann sagte er: »Mit diesem kleinen Trick beabsichtigte man lediglich unsere Aufmerksamkeit abzulenken, denn die wirkliche Entführung hatte ja bereits vor drei Wochen in der Schweiz stattgefunden.«
Poirot war zu höflich, um festzustellen, dass er allein auf diesen Gedanken gekommen war.
»Wir müssen nun von der Entführung zu einem viel ernsteren Thema übergehen: Mord.
Die falsche Shanda hätte Miss Springer natürlich ermorden können, aber weder Miss Vansittart noch Mademoiselle Blanche. Jedoch war es nicht ihre Aufgabe zu morden, sondern lediglich, den Wertgegenstand an sich zu nehmen, falls er ihr gebracht würde, oder Nachrichten zu empfangen.
Kehren wir zurück nach Ramat, wo alles begann. In Ramat hatte sich das Gerücht verbreitet, dass Prinz Ali Yusuf diesen Wertgegenstand Bob Rawlinson, seinem Privatpiloten, übergeben hatte, der ihn nach England bringen sollte. An jenem Tag ging Rawlinson in jenes Hotel in Ramat, wo sich seine Schwester, Mrs Sutcliffe, und ihre Tochter Jennifer aufhielten. Mrs Sutcliffe und Jennifer waren gerade nicht da, aber Bob Rawlinson ging in ihr Zimmer hinauf, wo er sich mindestens zwanzig Minuten aufhielt – reichlich lange unter diesen Umständen. Er hätte seiner Schwester einen ausführlichen Brief schreiben können, aber das tat er nicht. Er hinterließ nur einen kurzen Gruß, den zu schreiben nur eine Minute gedauert haben konnte.
Der Gedanke lag nahe, dass er während der Zeit, die er im Zimmer seiner Schwester verbrachte, einen gewissen Gegenstand in ihrem Gepäck versteckt hatte. Von da an müssen wir zwei verschiedene Spuren verfolgen. Eine oder mehrere Gruppen nahmen an, dass Mrs Sutcliffe diesen Gegenstand nach England gebracht hatte. Daraufhin wurde in ihr Landhaus eingebrochen, und es wurde alles gründlich durchsucht. Das zeigt, dass diese Gruppe nicht wusste, wo der Gegenstand verborgen war, nur dass er sich irgendwo unter Mrs Sutcliffes Sachen befand.
Aber jemand anderer wusste ganz genau, wo der Gegenstand war, und ich glaube, dass ich Ihnen jetzt unbesorgt mitteilen kann, wo Bob Rawlinson ihn versteckt hatte: nämlich im Griff eines Tennisschlägers, den er ausgehöhlt hatte und den er danach so geschickt wieder zusammenmontierte, dass nichts zu sehen war.
Der Tennisschläger gehörte seiner Nichte Jennifer. Jemand, der genau wusste, wo der Wertgegenstand war, ging eines Nachts in die Turnhalle, zu der er sich einen Nachschlüssel verschafft hatte. Er nahm an, dass um diese Zeit alle schlafen würden, aber er irrte sich. Miss Springer sah vom Haus aus ein flackerndes Licht in der Turnhalle und beschloss nachzusehen, was da los ist. Sie war eine kräftige, durchtrainierte junge Person, die davon überzeugt war, allein mit einem Eindringling fertigwerden zu können. Die infrage kommende Person war wahrscheinlich gerade damit beschäftigt, die Tennisschläger durchzugehen. Als sie sich von Miss Springer entdeckt und erkannt sah, zögerte sie nicht… Sie erschoss Miss Springer. Danach musste der Mörder schnell handeln. Man hatte den Schuss gehört, Leute näherten sich, und der Mörder musste um jeden Preis ungesehen aus der Turnhalle kommen. Der Tennisschläger musste für den Augenblick zurückgelassen werden…
Nach ein paar Tagen versuchte man es mit einer anderen Methode. Eine fremde Dame, die mit einem amerikanischen Akzent sprach, lauerte Jennifer Sutcliffe auf, als sie vom Tennisplatz kam. Sie erzählte ihr eine glaubhaft erscheinende Geschichte von einer Verwandten, die ihr einen neuen Tennisschläger schickte. Jennifer schöpfte keinen Verdacht und vertauschte ihren alten Tennisschläger freudig mit dem neuen teuren Sportgerät. Allerdings hatte sich einige Tage zuvor etwas ereignet, wovon die Dame mit dem amerikanischen Akzent nichts wusste: Jennifer Sutcliffe und Julia Upjohn hatten nämlich ihre Tennisschläger ausgetauscht. Die Fremde erhielt also Julia Upjohns Tennisschläger, auf dessen Griff sich allerdings ein Schild mit Jennifers Namen befand.
Jetzt kommen wir zur zweiten Tragödie. Aus unbekannten Gründen ging Miss Vansittart an dem Tag, an dem Shanda entführt worden war, nachdem alle anderen bereits im Bett waren, mit einer Taschenlampe in die Turnhalle. Jemand, der ihr dorthin gefolgt war, erschlug sie mit einem Gummiknüppel oder mit einem Sandsack, als sie sich gerade über Shandas Schließfach beugte. Auch dieses Verbrechen wurde sofort entdeckt. Miss Chadwick, die das Licht in der Turnhalle gesehen hatte, eilte unverzüglich an den Tatort.
Wieder war die Polizei sofort zur Stelle, und wieder wurde der Mörder daran gehindert, die Tennisschläger zu untersuchen. Inzwischen war die intelligente Julia Upjohn zu dem logischen Schluss gekommen, dass der Tennisschläger, den sie besaß und der ursprünglich Jennifer gehört hatte, irgendwie von Bedeutung sein musste. Sie untersuchte ihn auf eigene Faust, und nachdem sich ihre Annahme bestätigt hatte, brachte sie mir den gefundenen Wertgegenstand. Dieser befindet sich jetzt an einem sicheren Ort«, fuhr Hercule Poirot fort, »und somit kommen wir zur dritten Tragödie.
Was Mademoiselle Blanche wusste oder zu wissen glaubte, werden wir nie erfahren. Vielleicht hat sie jemanden gesehen, der in der Nacht, in der Miss Springer ermordet wurde, das Haus verließ. Wie dem auch sei, die Identität des Mörders war ihr bekannt, aber sie gab ihr Geheimnis nicht preis. Sie traf eine Verabredung mit dem Mörder, und sie wurde ermordet.«
Poirot machte eine weitere Pause; dann blickte er sich um.
»So, jetzt wissen Sie, was sich ereignet hat.«
Aller Augen ruhten auf ihm. Die Gesichter, auf denen sich zuerst Interesse, Erstaunen und Erregung gespiegelt hatten, waren jetzt wie eingefroren, fast als fürchteten sie, irgendwelche Gefühle zu zeigen.
Hercule Poirot nickte ihnen zu.
»Ich weiß, wie Ihnen zu Mute ist«, sagte er. »Es betrifft Sie alle mehr, als Sie glaubten, nicht wahr? Deshalb haben Kommissar Kelsey, Adam Goodman und ich Nachforschungen angestellt, denn wir müssen unbedingt feststellen, ob sich – sagen wir – noch immer eine Katze im Taubenschlag befindet. Sie verstehen, was ich meine… Ist hier jemand, der unter einer falschen Flagge segelt?«
Eine leichte Bewegung ging durch die lauschende Gruppe, aber niemand blickte auf, niemand wagte es, den Nachbarn anzusehen.
»Ich kann Ihnen versichern, dass sich keiner unter Ihnen als eine andere Person ausgibt«, fuhr Poirot fort. »Es besteht kein Zweifel, dass Miss Chadwick, die seit Bestehen der Schule hier tätig ist, niemand anderes ist als Miss Chadwick. Miss Johnson ist Miss Johnson, Miss Rich ist Miss Rich. Dasselbe gilt für Miss Shapland, Miss Rowan und Miss Blake. Adam Goodman, der hier im Garten arbeitet, tut dies nicht unter seinem richtigen Namen, aber wir wissen genau, wer er ist. Wir haben also nicht nach einer Person zu suchen, die sich hinter einer falschen Identität verbirgt, sondern schlicht und einfach nach einem Mörder.«
In dem Raum herrschte jetzt eine bedrohliche Stille.
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